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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erster Abschnitt.
lichen Auffassung widerstreben, theils die parallelen Er-
zählungen des Matthäus und Lukas sich gegenseitig aus-
schliessen, so dass unmöglich beide Recht haben können,
sondern nothwendig müsse Einer (diess aber könne der
eine so gut als der andere, also vielleicht auch beide sein,)
Unrecht haben. Einer von diesen Widersprüchen der bei-
den Berichte gegen einander ist es besonders, welcher sich
vom Anfang unsrer Kindheitsgeschichte bis zu dem hier er-
reichten Abschnitt hindurchzieht, auf den wir daher auch
schon früher gestossen sind, ohne dass wir uns jedoch bis
jezt länger bei demselben hätten verweilen können, weil
wir erst jezt, wo er seine Rolle ausgespielt hat, Materia-
lien genug zu gründlicher Würdigung desselben in der
Hand haben. Es ist diess eine Differenz, welche zwischen
Matthäus und Lukas in Bezug auf den ursprünglichen
Wohnort der Eltern Jesu stattfindet.

Lukas nämlich giebt gleich von Anfang Nazaret als
den Wohnort der Eltern Jesu an: hier sucht der Engel die
Maria auf (1, 26.); hier ist Maria's oikos (1, 56.) zu den-
ken; von da reisen Jesu Eltern nach Bethlehem zur Scha-
zung (2, 4.); kehren aber, sobald es die Umstände erlau-
ben, wieder nach Nazaret, als die polis auton, zurück
(V. 39.). Bei Lukas ist also augenscheinlich Nazaret der
eigentliche Wohnort der Eltern Jesu und nach Bethlehem
kommen sie nur durch zufällige Veranlassung auf kurze Zeit.

Bei Matthäus wird von [...]vorne herein nicht gesagt,
wo Joseph und Maria sich aufgehalten haben. Nach 2, 1.
ist Jesus in Bethlehem geboren, und indem von ausseror-
dentlichen Umständen, welche (nach Lukas) seine Eltern
dahin geführt haben sollen, nichts erwähnt ist, so scheint
es, Matthäus setze dieselben als ursprünglich schon zu
Bethlehem wohnhaft voraus. Hier lässt er sofort die El-
tern mit dem Kinde den Besuch der Magier erhalten, hier-
auf sich nach Aegypten flüchten, und von der Flucht zu-
rückkehrend wollen sie wieder nach Judäa sich wen-

Erster Abschnitt.
lichen Auffassung widerstreben, theils die parallelen Er-
zählungen des Matthäus und Lukas sich gegenseitig aus-
schlieſsen, so daſs unmöglich beide Recht haben können,
sondern nothwendig müsse Einer (dieſs aber könne der
eine so gut als der andere, also vielleicht auch beide sein,)
Unrecht haben. Einer von diesen Widersprüchen der bei-
den Berichte gegen einander ist es besonders, welcher sich
vom Anfang unsrer Kindheitsgeschichte bis zu dem hier er-
reichten Abschnitt hindurchzieht, auf den wir daher auch
schon früher gestoſsen sind, ohne daſs wir uns jedoch bis
jezt länger bei demselben hätten verweilen können, weil
wir erst jezt, wo er seine Rolle ausgespielt hat, Materia-
lien genug zu gründlicher Würdigung desselben in der
Hand haben. Es ist dieſs eine Differenz, welche zwischen
Matthäus und Lukas in Bezug auf den ursprünglichen
Wohnort der Eltern Jesu stattfindet.

Lukas nämlich giebt gleich von Anfang Nazaret als
den Wohnort der Eltern Jesu an: hier sucht der Engel die
Maria auf (1, 26.); hier ist Maria's οἶκος (1, 56.) zu den-
ken; von da reisen Jesu Eltern nach Bethlehem zur Scha-
zung (2, 4.); kehren aber, sobald es die Umstände erlau-
ben, wieder nach Nazaret, als die πόλις αὑτῶν, zurück
(V. 39.). Bei Lukas ist also augenscheinlich Nazaret der
eigentliche Wohnort der Eltern Jesu und nach Bethlehem
kommen sie nur durch zufällige Veranlassung auf kurze Zeit.

Bei Matthäus wird von […]vorne herein nicht gesagt,
wo Joseph und Maria sich aufgehalten haben. Nach 2, 1.
ist Jesus in Bethlehem geboren, und indem von ausseror-
dentlichen Umständen, welche (nach Lukas) seine Eltern
dahin geführt haben sollen, nichts erwähnt ist, so scheint
es, Matthäus setze dieselben als ursprünglich schon zu
Bethlehem wohnhaft voraus. Hier läſst er sofort die El-
tern mit dem Kinde den Besuch der Magier erhalten, hier-
auf sich nach Aegypten flüchten, und von der Flucht zu-
rückkehrend wollen sie wieder nach Judäa sich wen-

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[266/0290] Erster Abschnitt. lichen Auffassung widerstreben, theils die parallelen Er- zählungen des Matthäus und Lukas sich gegenseitig aus- schlieſsen, so daſs unmöglich beide Recht haben können, sondern nothwendig müsse Einer (dieſs aber könne der eine so gut als der andere, also vielleicht auch beide sein,) Unrecht haben. Einer von diesen Widersprüchen der bei- den Berichte gegen einander ist es besonders, welcher sich vom Anfang unsrer Kindheitsgeschichte bis zu dem hier er- reichten Abschnitt hindurchzieht, auf den wir daher auch schon früher gestoſsen sind, ohne daſs wir uns jedoch bis jezt länger bei demselben hätten verweilen können, weil wir erst jezt, wo er seine Rolle ausgespielt hat, Materia- lien genug zu gründlicher Würdigung desselben in der Hand haben. Es ist dieſs eine Differenz, welche zwischen Matthäus und Lukas in Bezug auf den ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu stattfindet. Lukas nämlich giebt gleich von Anfang Nazaret als den Wohnort der Eltern Jesu an: hier sucht der Engel die Maria auf (1, 26.); hier ist Maria's οἶκος (1, 56.) zu den- ken; von da reisen Jesu Eltern nach Bethlehem zur Scha- zung (2, 4.); kehren aber, sobald es die Umstände erlau- ben, wieder nach Nazaret, als die πόλις αὑτῶν, zurück (V. 39.). Bei Lukas ist also augenscheinlich Nazaret der eigentliche Wohnort der Eltern Jesu und nach Bethlehem kommen sie nur durch zufällige Veranlassung auf kurze Zeit. Bei Matthäus wird von vorne herein nicht gesagt, wo Joseph und Maria sich aufgehalten haben. Nach 2, 1. ist Jesus in Bethlehem geboren, und indem von ausseror- dentlichen Umständen, welche (nach Lukas) seine Eltern dahin geführt haben sollen, nichts erwähnt ist, so scheint es, Matthäus setze dieselben als ursprünglich schon zu Bethlehem wohnhaft voraus. Hier läſst er sofort die El- tern mit dem Kinde den Besuch der Magier erhalten, hier- auf sich nach Aegypten flüchten, und von der Flucht zu- rückkehrend wollen sie wieder nach Judäa sich wen-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/290>, abgerufen am 29.04.2024.