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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Drittes Kapitel. §. 54.
tion aus einer ganz andern Stelle nehmen; überhaupt aber
ist nicht erweislich, dass schon zu Jesu Zeit bestimmte
Lesestücke auch aus den Propheten vorgeschrieben gewe-
sen seien 9). War also Jesus nicht durch diese äussere
Veranlassung auf die bezeichnete Stelle hingewiesen, so
fragt sich: schlug er sie absichtlich oder unabsichtlich auf?
Manche freilich lassen ihn so lange blättern, bis er die
Stelle, welche er im Sinne hatte, findet 10): allein Ols-
hausen
hat wohl recht, wenn er sagt, das anaptuxas to
biblion eure ton topon deute nicht auf ein reflektirend ab-
sichtliches, sondern auf ein vom Geist geleitetes Finden je-
ner Stelle hin 11). Dass aber auf diese Weise Jesus hier
zufällig gerade diejenige Stelle aufgeschlagen haben soll,
welche zur Bezeichnung seines ersten messianischen Auf-
tretens so ausgesucht passte, das Auffallende hievon wird
durch die Berufung auf den Geist als deus ex machina
nur schlecht versteckt. Wohl konnte Jesus diese Stelle
mit Bezug auf sich selber im Munde führen, und ebenso
konnte sie dem Evangelisten als in Jesu erfüllt vorschwe-
ben; Matthäus hätte sie vielleicht in seiner eignen Person
durch ina plerothe eingeführt und gesagt, Jesus habe nun-
mehr sein messianisches ker[u]gma begonnen, auf dass die
Weissagung Jes. 61. 1 f. erfüllet würde; statt dessen legt
sie Lukas, der diese Formel weniger liebt, oder die Tra-
dition, aus welcher er schöpfte, Jesu selbst bei seinem
ersten messianischen Auftritt in den Mund, -- sehr ge-
schickt offenbar, aber wegen des dabei vorauszusetzenden
Zufalls minder wahrscheinlich, so dass ich mir lieber an
der unbestimmten Angabe des Matthäus und Markus genü-
gen lassen will.

Das Andere, worin der Vorzug der Schilderung des

9) Paulus, a. a. O. 1, b, S. 407.
10) Paulus, a. a. O., aber auch Lightfoot, horae, S. 765.
11) Bibl. Comm. 1, S. 470.
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Drittes Kapitel. §. 54.
tion aus einer ganz andern Stelle nehmen; überhaupt aber
ist nicht erweislich, daſs schon zu Jesu Zeit bestimmte
Lesestücke auch aus den Propheten vorgeschrieben gewe-
sen seien 9). War also Jesus nicht durch diese äussere
Veranlassung auf die bezeichnete Stelle hingewiesen, so
fragt sich: schlug er sie absichtlich oder unabsichtlich auf?
Manche freilich lassen ihn so lange blättern, bis er die
Stelle, welche er im Sinne hatte, findet 10): allein Ols-
hausen
hat wohl recht, wenn er sagt, das ἀναπτύξας τὸ
βιβλίον εὗρε τὸν τόπον deute nicht auf ein reflektirend ab-
sichtliches, sondern auf ein vom Geist geleitetes Finden je-
ner Stelle hin 11). Daſs aber auf diese Weise Jesus hier
zufällig gerade diejenige Stelle aufgeschlagen haben soll,
welche zur Bezeichnung seines ersten messianischen Auf-
tretens so ausgesucht paſste, das Auffallende hievon wird
durch die Berufung auf den Geist als deus ex machina
nur schlecht versteckt. Wohl konnte Jesus diese Stelle
mit Bezug auf sich selber im Munde führen, und ebenso
konnte sie dem Evangelisten als in Jesu erfüllt vorschwe-
ben; Matthäus hätte sie vielleicht in seiner eignen Person
durch ἵνα πληρωϑῇ eingeführt und gesagt, Jesus habe nun-
mehr sein messianisches κήρ[υ]γμα begonnen, auf daſs die
Weissagung Jes. 61. 1 f. erfüllet würde; statt dessen legt
sie Lukas, der diese Formel weniger liebt, oder die Tra-
dition, aus welcher er schöpfte, Jesu selbst bei seinem
ersten messianischen Auftritt in den Mund, — sehr ge-
schickt offenbar, aber wegen des dabei vorauszusetzenden
Zufalls minder wahrscheinlich, so daſs ich mir lieber an
der unbestimmten Angabe des Matthäus und Markus genü-
gen lassen will.

Das Andere, worin der Vorzug der Schilderung des

9) Paulus, a. a. O. 1, b, S. 407.
10) Paulus, a. a. O., aber auch Lightfoot, horae, S. 765.
11) Bibl. Comm. 1, S. 470.
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[451/0475] Drittes Kapitel. §. 54. tion aus einer ganz andern Stelle nehmen; überhaupt aber ist nicht erweislich, daſs schon zu Jesu Zeit bestimmte Lesestücke auch aus den Propheten vorgeschrieben gewe- sen seien 9). War also Jesus nicht durch diese äussere Veranlassung auf die bezeichnete Stelle hingewiesen, so fragt sich: schlug er sie absichtlich oder unabsichtlich auf? Manche freilich lassen ihn so lange blättern, bis er die Stelle, welche er im Sinne hatte, findet 10): allein Ols- hausen hat wohl recht, wenn er sagt, das ἀναπτύξας τὸ βιβλίον εὗρε τὸν τόπον deute nicht auf ein reflektirend ab- sichtliches, sondern auf ein vom Geist geleitetes Finden je- ner Stelle hin 11). Daſs aber auf diese Weise Jesus hier zufällig gerade diejenige Stelle aufgeschlagen haben soll, welche zur Bezeichnung seines ersten messianischen Auf- tretens so ausgesucht paſste, das Auffallende hievon wird durch die Berufung auf den Geist als deus ex machina nur schlecht versteckt. Wohl konnte Jesus diese Stelle mit Bezug auf sich selber im Munde führen, und ebenso konnte sie dem Evangelisten als in Jesu erfüllt vorschwe- ben; Matthäus hätte sie vielleicht in seiner eignen Person durch ἵνα πληρωϑῇ eingeführt und gesagt, Jesus habe nun- mehr sein messianisches κήρυγμα begonnen, auf daſs die Weissagung Jes. 61. 1 f. erfüllet würde; statt dessen legt sie Lukas, der diese Formel weniger liebt, oder die Tra- dition, aus welcher er schöpfte, Jesu selbst bei seinem ersten messianischen Auftritt in den Mund, — sehr ge- schickt offenbar, aber wegen des dabei vorauszusetzenden Zufalls minder wahrscheinlich, so daſs ich mir lieber an der unbestimmten Angabe des Matthäus und Markus genü- gen lassen will. Das Andere, worin der Vorzug der Schilderung des 9) Paulus, a. a. O. 1, b, S. 407. 10) Paulus, a. a. O., aber auch Lightfoot, horae, S. 765. 11) Bibl. Comm. 1, S. 470. 29*

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/475>, abgerufen am 27.04.2024.