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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
seiner Wiederherstellung warnend sagt: meketi amartane,
ina me kheiron ti soi genetai (V. 14.), so ist diess so gut,
als wenn er einem zu Heilenden zuruft: apheontai soi ai
amartiai sou, beidemale nämlich wird Krankheit als Sün-
denstrafe hier aufgehoben, dort angedroht. Doch auch hier
wissen die Erklärer, denen es unwillkommen ist, von Jesu
eine Ansicht, welche sie verwerfen, anerkannt zu finden,
dem natürlichen Sinne auszuweichen. Jesus soll das be-
sondre Übel dieses Menschen als eine natürliche Folge
gewisser Ausschweifungen erkannt, und ihn vor Wieder-
holung derselben gewarnt haben, weil diess eine gefährli-
chere Recidive herbeiführen könnte 4). Allein der Denk-
weise des Zeitalters Jesu liegt die Einsicht in den natürli-
chen Zusammenhang gewisser Ausschweifungen mit gewis-
sen Krankheiten als deren Folgen weit ferner als die An-
sicht von einem positiven Zusammenhang der Sünde über-
haupt mit der Krankheit als deren Strafe; es müsste also,
wenn wir dennoch den Worten Jesu den ersteren Sinn
sollten unterlegen dürfen, dieser sehr bestimmt in der Stel-
le angezeigt sein. Nun aber ist in der ganzen Erzählung
von einer bestimmten Ausschweifung des Menschen nicht
die Rede, das von Jesu ihm zugerufene meketi amartane be-
zeichnet nur Sündigen überhaupt, und eine Unterredung
Jesu mit dem Kranken, in welcher er denselben über den
Zusammenhang seines Leidens mit einer bestimmten Sünde
belehrt hätte, zu suppliren, 5), ist die willkührlichste Fik-
tion. Welche Auslegung, wenn man, um einem dogmatisch
unangenehmen Ergebniss auszuweichen, die eine Stelle (Joh.
9.) zu einer nicht in ihr liegenden Allgemeinheit erweitert,
die andere (Matth. 9.) durch die Accommodationshypothe-
se eludirt, der dritten (Joh. 5.) einen modernen Begriff
gewaltsam aufdrängt: statt dass, wenn man nur die erste

4) Paulus, Comm. 4, S. 264 Lücke, 2, S. 22.
5) Wie Tholuck z. d. St. thut.

Zweiter Abschnitt.
seiner Wiederherstellung warnend sagt: μηκέτι ἁμάρτανε,
ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται (V. 14.), so ist dieſs so gut,
als wenn er einem zu Heilenden zuruft: ἀφέωνταί σοι αἱ
ἁμαρτίαι σου, beidemale nämlich wird Krankheit als Sün-
denstrafe hier aufgehoben, dort angedroht. Doch auch hier
wissen die Erklärer, denen es unwillkommen ist, von Jesu
eine Ansicht, welche sie verwerfen, anerkannt zu finden,
dem natürlichen Sinne auszuweichen. Jesus soll das be-
sondre Übel dieses Menschen als eine natürliche Folge
gewisser Ausschweifungen erkannt, und ihn vor Wieder-
holung derselben gewarnt haben, weil dieſs eine gefährli-
chere Recidive herbeiführen könnte 4). Allein der Denk-
weise des Zeitalters Jesu liegt die Einsicht in den natürli-
chen Zusammenhang gewisser Ausschweifungen mit gewis-
sen Krankheiten als deren Folgen weit ferner als die An-
sicht von einem positiven Zusammenhang der Sünde über-
haupt mit der Krankheit als deren Strafe; es müſste also,
wenn wir dennoch den Worten Jesu den ersteren Sinn
sollten unterlegen dürfen, dieser sehr bestimmt in der Stel-
le angezeigt sein. Nun aber ist in der ganzen Erzählung
von einer bestimmten Ausschweifung des Menschen nicht
die Rede, das von Jesu ihm zugerufene μηκέτι ἁμάρτανε be-
zeichnet nur Sündigen überhaupt, und eine Unterredung
Jesu mit dem Kranken, in welcher er denselben über den
Zusammenhang seines Leidens mit einer bestimmten Sünde
belehrt hätte, zu suppliren, 5), ist die willkührlichste Fik-
tion. Welche Auslegung, wenn man, um einem dogmatisch
unangenehmen Ergebniſs auszuweichen, die eine Stelle (Joh.
9.) zu einer nicht in ihr liegenden Allgemeinheit erweitert,
die andere (Matth. 9.) durch die Accommodationshypothe-
se eludirt, der dritten (Joh. 5.) einen modernen Begriff
gewaltsam aufdrängt: statt daſs, wenn man nur die erste

4) Paulus, Comm. 4, S. 264 Lücke, 2, S. 22.
5) Wie Tholuck z. d. St. thut.
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[86/0105] Zweiter Abschnitt. seiner Wiederherstellung warnend sagt: μηκέτι ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται (V. 14.), so ist dieſs so gut, als wenn er einem zu Heilenden zuruft: ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, beidemale nämlich wird Krankheit als Sün- denstrafe hier aufgehoben, dort angedroht. Doch auch hier wissen die Erklärer, denen es unwillkommen ist, von Jesu eine Ansicht, welche sie verwerfen, anerkannt zu finden, dem natürlichen Sinne auszuweichen. Jesus soll das be- sondre Übel dieses Menschen als eine natürliche Folge gewisser Ausschweifungen erkannt, und ihn vor Wieder- holung derselben gewarnt haben, weil dieſs eine gefährli- chere Recidive herbeiführen könnte 4). Allein der Denk- weise des Zeitalters Jesu liegt die Einsicht in den natürli- chen Zusammenhang gewisser Ausschweifungen mit gewis- sen Krankheiten als deren Folgen weit ferner als die An- sicht von einem positiven Zusammenhang der Sünde über- haupt mit der Krankheit als deren Strafe; es müſste also, wenn wir dennoch den Worten Jesu den ersteren Sinn sollten unterlegen dürfen, dieser sehr bestimmt in der Stel- le angezeigt sein. Nun aber ist in der ganzen Erzählung von einer bestimmten Ausschweifung des Menschen nicht die Rede, das von Jesu ihm zugerufene μηκέτι ἁμάρτανε be- zeichnet nur Sündigen überhaupt, und eine Unterredung Jesu mit dem Kranken, in welcher er denselben über den Zusammenhang seines Leidens mit einer bestimmten Sünde belehrt hätte, zu suppliren, 5), ist die willkührlichste Fik- tion. Welche Auslegung, wenn man, um einem dogmatisch unangenehmen Ergebniſs auszuweichen, die eine Stelle (Joh. 9.) zu einer nicht in ihr liegenden Allgemeinheit erweitert, die andere (Matth. 9.) durch die Accommodationshypothe- se eludirt, der dritten (Joh. 5.) einen modernen Begriff gewaltsam aufdrängt: statt daſs, wenn man nur die erste 4) Paulus, Comm. 4, S. 264 Lücke, 2, S. 22. 5) Wie Tholuck z. d. St. thut.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/105>, abgerufen am 29.04.2024.