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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
Wie aber dieser dazukam, die Bitte der ersten Gesandt-
schaft durch eine zweite zurücknehmen zu lassen, diess ent-
deckt uns ein unscheinbarer Verräther, der Ausdruck:
kurie, me skullou nämlich, welcher in unsrer Erzählung
dem Lukas eigenthümlich ist. Diese Formel erinnert an
die ähnliche, welche derselbe Evangelist, und nach ihm
Markus, in der Geschichte von der Tochter des Jairus
gebraucht, wo, nachdem vor Jesu Ankunft im Hause das
Mädchen gestorben ist, ein Bote von da dem mit Jesu sich
nähernden Vater mit der Erinnerung: me skulle ton dida-
skalon, entgegenkommt (8, 49.). Der Hauptmann, welcher
Jesum nicht in sein Haus bemühen will, erinnerte ihn an
den Boten, der dem Jairus wehrte, den Lehrer in sein
Haus zu bemühen, und wie hier, so liess er nun auch dort
der Ablehnung eine Aufforderung, in das Haus zu kom-
men, vorangehen. Da zu einer solchen Contre-ordre nur
bei Jairus, in dessen Hause sich seit der ersten Aufforde-
rung durch den Tod der Tochter die Lage der Dinge ver-
ändert hatte, keineswegs aber bei dem Centurio, dessen
Knecht noch immer im gleichen Zustande war, ein Grund
vorlag, so kann der Zug mit der widerrufenden Botschaft
nur aus jener Geschichte, wenn sie gleich erst nach der
unsrigen kommt, in diese herübergewandert sein, nicht aber
umgekehrt.

Da von der Identification aller drei Geschichten die
neueren Erklärer sich hauptsächlich durch die Furcht ab-
gehalten finden, Johannes möchte dabei in das Licht eines
solchen gestellt werden, der die Scene nicht genau genug
aufgefasst, und wohl gar das Hauptmoment übersehen ha-
be 9): so würden sie also, wenn sie eine Vereinigung
dennoch wagen wollten, dem vierten Evangelium so viel
möglich die ursprünglichste Darstellung der Sache vindici-
ren, eine Voraussetzung, die wir sofort aus der Beschaf-

9) Tholuck, S. 102 f. Hase, §. 68. Anm. 2.

Zweiter Abschnitt.
Wie aber dieser dazukam, die Bitte der ersten Gesandt-
schaft durch eine zweite zurücknehmen zu lassen, dieſs ent-
deckt uns ein unscheinbarer Verräther, der Ausdruck:
κύριε, μὴ σκύλλου nämlich, welcher in unsrer Erzählung
dem Lukas eigenthümlich ist. Diese Formel erinnert an
die ähnliche, welche derselbe Evangelist, und nach ihm
Markus, in der Geschichte von der Tochter des Jairus
gebraucht, wo, nachdem vor Jesu Ankunft im Hause das
Mädchen gestorben ist, ein Bote von da dem mit Jesu sich
nähernden Vater mit der Erinnerung: μὴ σκύλλε τὸν διδά-
σκαλον, entgegenkommt (8, 49.). Der Hauptmann, welcher
Jesum nicht in sein Haus bemühen will, erinnerte ihn an
den Boten, der dem Jairus wehrte, den Lehrer in sein
Haus zu bemühen, und wie hier, so lieſs er nun auch dort
der Ablehnung eine Aufforderung, in das Haus zu kom-
men, vorangehen. Da zu einer solchen Contre-ordre nur
bei Jairus, in dessen Hause sich seit der ersten Aufforde-
rung durch den Tod der Tochter die Lage der Dinge ver-
ändert hatte, keineswegs aber bei dem Centurio, dessen
Knecht noch immer im gleichen Zustande war, ein Grund
vorlag, so kann der Zug mit der widerrufenden Botschaft
nur aus jener Geschichte, wenn sie gleich erst nach der
unsrigen kommt, in diese herübergewandert sein, nicht aber
umgekehrt.

Da von der Identification aller drei Geschichten die
neueren Erklärer sich hauptsächlich durch die Furcht ab-
gehalten finden, Johannes möchte dabei in das Licht eines
solchen gestellt werden, der die Scene nicht genau genug
aufgefaſst, und wohl gar das Hauptmoment übersehen ha-
be 9): so würden sie also, wenn sie eine Vereinigung
dennoch wagen wollten, dem vierten Evangelium so viel
möglich die ursprünglichste Darstellung der Sache vindici-
ren, eine Voraussetzung, die wir sofort aus der Beschaf-

9) Tholuck, S. 102 f. Hase, §. 68. Anm. 2.
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[112/0131] Zweiter Abschnitt. Wie aber dieser dazukam, die Bitte der ersten Gesandt- schaft durch eine zweite zurücknehmen zu lassen, dieſs ent- deckt uns ein unscheinbarer Verräther, der Ausdruck: κύριε, μὴ σκύλλου nämlich, welcher in unsrer Erzählung dem Lukas eigenthümlich ist. Diese Formel erinnert an die ähnliche, welche derselbe Evangelist, und nach ihm Markus, in der Geschichte von der Tochter des Jairus gebraucht, wo, nachdem vor Jesu Ankunft im Hause das Mädchen gestorben ist, ein Bote von da dem mit Jesu sich nähernden Vater mit der Erinnerung: μὴ σκύλλε τὸν διδά- σκαλον, entgegenkommt (8, 49.). Der Hauptmann, welcher Jesum nicht in sein Haus bemühen will, erinnerte ihn an den Boten, der dem Jairus wehrte, den Lehrer in sein Haus zu bemühen, und wie hier, so lieſs er nun auch dort der Ablehnung eine Aufforderung, in das Haus zu kom- men, vorangehen. Da zu einer solchen Contre-ordre nur bei Jairus, in dessen Hause sich seit der ersten Aufforde- rung durch den Tod der Tochter die Lage der Dinge ver- ändert hatte, keineswegs aber bei dem Centurio, dessen Knecht noch immer im gleichen Zustande war, ein Grund vorlag, so kann der Zug mit der widerrufenden Botschaft nur aus jener Geschichte, wenn sie gleich erst nach der unsrigen kommt, in diese herübergewandert sein, nicht aber umgekehrt. Da von der Identification aller drei Geschichten die neueren Erklärer sich hauptsächlich durch die Furcht ab- gehalten finden, Johannes möchte dabei in das Licht eines solchen gestellt werden, der die Scene nicht genau genug aufgefaſst, und wohl gar das Hauptmoment übersehen ha- be 9): so würden sie also, wenn sie eine Vereinigung dennoch wagen wollten, dem vierten Evangelium so viel möglich die ursprünglichste Darstellung der Sache vindici- ren, eine Voraussetzung, die wir sofort aus der Beschaf- 9) Tholuck, S. 102 f. Hase, §. 68. Anm. 2.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/131>, abgerufen am 29.04.2024.