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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 94.
Johannes den Vorzug vor den beiden andern Referenten
zuerkennen wollen. Denn wenn diejenige Erzählung die
mehr sagenhafte ist, welche ein Bestreben nach Vergrösse-
rung oder Verschönerung zu erkennen giebt: so könnte
man sagen, es zeige sich der Bittende, der nach Johannes
ziemlich schwach im Glauben gewesen sei, bei den Synop-
tikern zu einem Glaubensmuster verschönert. Allein nicht
auf Verschönerung überhaupt, sondern nur in Beziehung
auf ihren Hauptzweck, welcher bei den Evangelien die
Verherrlichung Jesu ist, geht die Sage oder ein dichtender
Referent aus, und hienach wird man in doppelter Hinsicht
die Verschönerung auf Seiten des vierten Evangeliums fin-
den. Einmal, wie es überhaupt darauf ausgeht, die Über-
legenheit Jesu durch den Contrast mit der Schwäche de-
rer, die mit ihm zu thun haben, hervorzuheben, konnte es
auch hier sein Interesse sein, den Bittsteller eher schwach-
als starkgläubig darzustellen, wobei ihm jedoch die Erwie-
derung, welche es Jesu in den Mund legt: ean me semeia
kai terata idete,oume piseusete, doch wohl zu hart ge-
rathen ist, wesswegen sie denn auch die meisten Erklärer
in Verlegenheit sezt. Zweitens aber konnte es unschick-
lich erscheinen, dass Jesus von seinem anfänglichen Vor-
saz, in das Haus des Kranken zu gehen, sich nachher
wieder abbringen liess, und so fremdem Einfluss zu folgen
schien; man konnte es für angemessener halten, die Hei-
lung aus der Ferne als seinen ursprünglichen Vorsaz, und
nicht erst durch einen Andern ihm eingeredet, darzustel-
len. Sollte nun aber, wie diess die Überlieferung an die
Hand gab, der Bittsteller doch eine Einrede gethan haben,
so musste diese die entgegengesetzte Richtung als bei den
Synoptikern bekommen, nämlich, Jesum zu einem Gange
in das Haus des Kranken bestimmen zu wollen.

Fragt es sich nun um die Möglichkeit und den nähe-
ren Hergang des vorliegenden Ereignisses, so glaubt die
natürliche Erklärung am leichtesten mit der Erzählung

8 *

Neuntes Kapitel. §. 94.
Johannes den Vorzug vor den beiden andern Referenten
zuerkennen wollen. Denn wenn diejenige Erzählung die
mehr sagenhafte ist, welche ein Bestreben nach Vergröſse-
rung oder Verschönerung zu erkennen giebt: so könnte
man sagen, es zeige sich der Bittende, der nach Johannes
ziemlich schwach im Glauben gewesen sei, bei den Synop-
tikern zu einem Glaubensmuster verschönert. Allein nicht
auf Verschönerung überhaupt, sondern nur in Beziehung
auf ihren Hauptzweck, welcher bei den Evangelien die
Verherrlichung Jesu ist, geht die Sage oder ein dichtender
Referent aus, und hienach wird man in doppelter Hinsicht
die Verschönerung auf Seiten des vierten Evangeliums fin-
den. Einmal, wie es überhaupt darauf ausgeht, die Über-
legenheit Jesu durch den Contrast mit der Schwäche de-
rer, die mit ihm zu thun haben, hervorzuheben, konnte es
auch hier sein Interesse sein, den Bittsteller eher schwach-
als starkgläubig darzustellen, wobei ihm jedoch die Erwie-
derung, welche es Jesu in den Mund legt: ἐὰν μὴ σημεῖα
καὶ τέρατα ἴδητε,οὐμὴ πιςεύσητε, doch wohl zu hart ge-
rathen ist, weſswegen sie denn auch die meisten Erklärer
in Verlegenheit sezt. Zweitens aber konnte es unschick-
lich erscheinen, daſs Jesus von seinem anfänglichen Vor-
saz, in das Haus des Kranken zu gehen, sich nachher
wieder abbringen lieſs, und so fremdem Einfluſs zu folgen
schien; man konnte es für angemessener halten, die Hei-
lung aus der Ferne als seinen ursprünglichen Vorsaz, und
nicht erst durch einen Andern ihm eingeredet, darzustel-
len. Sollte nun aber, wie dieſs die Überlieferung an die
Hand gab, der Bittsteller doch eine Einrede gethan haben,
so muſste diese die entgegengesetzte Richtung als bei den
Synoptikern bekommen, nämlich, Jesum zu einem Gange
in das Haus des Kranken bestimmen zu wollen.

Fragt es sich nun um die Möglichkeit und den nähe-
ren Hergang des vorliegenden Ereignisses, so glaubt die
natürliche Erklärung am leichtesten mit der Erzählung

8 *
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[115/0134] Neuntes Kapitel. §. 94. Johannes den Vorzug vor den beiden andern Referenten zuerkennen wollen. Denn wenn diejenige Erzählung die mehr sagenhafte ist, welche ein Bestreben nach Vergröſse- rung oder Verschönerung zu erkennen giebt: so könnte man sagen, es zeige sich der Bittende, der nach Johannes ziemlich schwach im Glauben gewesen sei, bei den Synop- tikern zu einem Glaubensmuster verschönert. Allein nicht auf Verschönerung überhaupt, sondern nur in Beziehung auf ihren Hauptzweck, welcher bei den Evangelien die Verherrlichung Jesu ist, geht die Sage oder ein dichtender Referent aus, und hienach wird man in doppelter Hinsicht die Verschönerung auf Seiten des vierten Evangeliums fin- den. Einmal, wie es überhaupt darauf ausgeht, die Über- legenheit Jesu durch den Contrast mit der Schwäche de- rer, die mit ihm zu thun haben, hervorzuheben, konnte es auch hier sein Interesse sein, den Bittsteller eher schwach- als starkgläubig darzustellen, wobei ihm jedoch die Erwie- derung, welche es Jesu in den Mund legt: ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τέρατα ἴδητε,οὐμὴ πιςεύσητε, doch wohl zu hart ge- rathen ist, weſswegen sie denn auch die meisten Erklärer in Verlegenheit sezt. Zweitens aber konnte es unschick- lich erscheinen, daſs Jesus von seinem anfänglichen Vor- saz, in das Haus des Kranken zu gehen, sich nachher wieder abbringen lieſs, und so fremdem Einfluſs zu folgen schien; man konnte es für angemessener halten, die Hei- lung aus der Ferne als seinen ursprünglichen Vorsaz, und nicht erst durch einen Andern ihm eingeredet, darzustel- len. Sollte nun aber, wie dieſs die Überlieferung an die Hand gab, der Bittsteller doch eine Einrede gethan haben, so muſste diese die entgegengesetzte Richtung als bei den Synoptikern bekommen, nämlich, Jesum zu einem Gange in das Haus des Kranken bestimmen zu wollen. Fragt es sich nun um die Möglichkeit und den nähe- ren Hergang des vorliegenden Ereignisses, so glaubt die natürliche Erklärung am leichtesten mit der Erzählung 8 *

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/134>, abgerufen am 29.04.2024.