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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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dem Eindruck, welchen sein Charakter bei den Zeitgenos-
sen zurückliess, geradezu widersprechen würde. Hat al-
so Jesus die Genesung des Fieberkranken auch nur vor-
ausgesagt, ohne sie zu bewirken, so muss er doch auf zu-
verlässigere Weise als durch natürliches Räsonnement von
derselben versichert gewesen sein, er muss sie auf über-
natürliche Art gewusst haben. Diese Wendung hat der
neueste Erklärer des Johannes der Sache zu geben versucht.
Er stellt die Frage, ob wir hier ein Wunder des Wissens
oder des Wirkens haben? und da nun von einer unmit-
telbaren Wirkung des Wortes Jesu nirgends die Rede sei,
sonst aber im vierten Evangelium gerade das höhere Wis-
sen Jesu besonders hervorgehoben werde, so erklärt er
sich dahin, Jesus habe vormöge seiner höheren Natur nur
gewusst, dass in jenem Augenblicke die Krankheit sich zum
Leben entschied 11). Allein die öftere Hervorhebung des hö-
heren Wissens Jesu in unserem Evangelium beweist hie-
her nichts, da es ebenso oft auf sein höheres Wirken auf-
merksam macht. Ferner, wenn von übernatürlichem Wis-
sen Jesu die Rede ist, wird diess sonst deutlich angegeben
(wie 1, 49. 2, 25. 6, 64.), und so würde Johannes, wenn
eine übernatürliche Kunde von der ohnehin erfolgten Ge-
nesung des Knaben gemeint wäre, Jesum wohl auch
hier auf ähnliche Weise, wie dort zu Nathanael, zu dem
Vater sprechen lassen, dass er seinen Sohn bereits in er-
träglicherem Zustande auf seinem Bette erblicke. Nicht
nur aber ist von höherem Wissen nichts angedeutet, son-
dern eine wunderbare Wirksamkeit deutlich genug zu ver-
stehen gegeben. Wenn nämlich von einem mellon apo-
thneskein die plözliche Genesung gemeldet ist, so will man
zunächst die Ursache wissen, welche diese unerwartete
Wendung herbeigeführt habe, und wenn nun ein Bericht,
der auch sonst auf das Wort seines Helden hin Wunder
erfolgen lässt, eine Versicherung desselben, dass der Kran-

11) Lücke 1, S. 550 f.

Neuntes Kapitel. §. 94.
dem Eindruck, welchen sein Charakter bei den Zeitgenos-
sen zurücklieſs, geradezu widersprechen würde. Hat al-
so Jesus die Genesung des Fieberkranken auch nur vor-
ausgesagt, ohne sie zu bewirken, so muſs er doch auf zu-
verläſsigere Weise als durch natürliches Räsonnement von
derselben versichert gewesen sein, er muſs sie auf über-
natürliche Art gewuſst haben. Diese Wendung hat der
neueste Erklärer des Johannes der Sache zu geben versucht.
Er stellt die Frage, ob wir hier ein Wunder des Wissens
oder des Wirkens haben? und da nun von einer unmit-
telbaren Wirkung des Wortes Jesu nirgends die Rede sei,
sonst aber im vierten Evangelium gerade das höhere Wis-
sen Jesu besonders hervorgehoben werde, so erklärt er
sich dahin, Jesus habe vormöge seiner höheren Natur nur
gewuſst, daſs in jenem Augenblicke die Krankheit sich zum
Leben entschied 11). Allein die öftere Hervorhebung des hö-
heren Wissens Jesu in unserem Evangelium beweist hie-
her nichts, da es ebenso oft auf sein höheres Wirken auf-
merksam macht. Ferner, wenn von übernatürlichem Wis-
sen Jesu die Rede ist, wird dieſs sonst deutlich angegeben
(wie 1, 49. 2, 25. 6, 64.), und so würde Johannes, wenn
eine übernatürliche Kunde von der ohnehin erfolgten Ge-
nesung des Knaben gemeint wäre, Jesum wohl auch
hier auf ähnliche Weise, wie dort zu Nathanaël, zu dem
Vater sprechen lassen, daſs er seinen Sohn bereits in er-
träglicherem Zustande auf seinem Bette erblicke. Nicht
nur aber ist von höherem Wissen nichts angedeutet, son-
dern eine wunderbare Wirksamkeit deutlich genug zu ver-
stehen gegeben. Wenn nämlich von einem μέλλων ἀπο-
ϑνήσκειν die plözliche Genesung gemeldet ist, so will man
zunächst die Ursache wissen, welche diese unerwartete
Wendung herbeigeführt habe, und wenn nun ein Bericht,
der auch sonst auf das Wort seines Helden hin Wunder
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11) Lücke 1, S. 550 f.
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[117/0136] Neuntes Kapitel. §. 94. dem Eindruck, welchen sein Charakter bei den Zeitgenos- sen zurücklieſs, geradezu widersprechen würde. Hat al- so Jesus die Genesung des Fieberkranken auch nur vor- ausgesagt, ohne sie zu bewirken, so muſs er doch auf zu- verläſsigere Weise als durch natürliches Räsonnement von derselben versichert gewesen sein, er muſs sie auf über- natürliche Art gewuſst haben. Diese Wendung hat der neueste Erklärer des Johannes der Sache zu geben versucht. Er stellt die Frage, ob wir hier ein Wunder des Wissens oder des Wirkens haben? und da nun von einer unmit- telbaren Wirkung des Wortes Jesu nirgends die Rede sei, sonst aber im vierten Evangelium gerade das höhere Wis- sen Jesu besonders hervorgehoben werde, so erklärt er sich dahin, Jesus habe vormöge seiner höheren Natur nur gewuſst, daſs in jenem Augenblicke die Krankheit sich zum Leben entschied 11). Allein die öftere Hervorhebung des hö- heren Wissens Jesu in unserem Evangelium beweist hie- her nichts, da es ebenso oft auf sein höheres Wirken auf- merksam macht. Ferner, wenn von übernatürlichem Wis- sen Jesu die Rede ist, wird dieſs sonst deutlich angegeben (wie 1, 49. 2, 25. 6, 64.), und so würde Johannes, wenn eine übernatürliche Kunde von der ohnehin erfolgten Ge- nesung des Knaben gemeint wäre, Jesum wohl auch hier auf ähnliche Weise, wie dort zu Nathanaël, zu dem Vater sprechen lassen, daſs er seinen Sohn bereits in er- träglicherem Zustande auf seinem Bette erblicke. Nicht nur aber ist von höherem Wissen nichts angedeutet, son- dern eine wunderbare Wirksamkeit deutlich genug zu ver- stehen gegeben. Wenn nämlich von einem μέλλων ἀπο- ϑνήσκειν die plözliche Genesung gemeldet ist, so will man zunächst die Ursache wissen, welche diese unerwartete Wendung herbeigeführt habe, und wenn nun ein Bericht, der auch sonst auf das Wort seines Helden hin Wunder erfolgen läſst, eine Versicherung desselben, daſs der Kran- 11) Lücke 1, S. 550 f.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/136>, abgerufen am 29.04.2024.