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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 97.
Vieles zu erzählen. Abgesehen von eigenthümlich griechi-
schen Vorstellungen 19), so schrieb die orientalisch-grie-
chische Sage dem Hyperboreer Abaris einen Pfeil zu,
auf welchem er über Flüsse, Meere und Abgründe schwe-
bend sezte 20); der gemeine Volksglaube lieh manchen
Thaumaturgen die Fähigkeit, auf dem Wasser zu gehen 21):
und es erscheint so die Möglichkeit, dass sich aus allen
diesen Elementen und Veranlassungen eine gleiche Sage
auch über Jesum bilden konnte, ungleich grösser, als die
eines wirklichen Vorgangs dieser Art, -- womit unsre
Rechnung geschlossen ist.

Mit den bisher betrachteten Seeanekdoten hat die Joh.
21. erzählte phanerosis Jesu epi tes thalasses tes Tiberia-
dos so auffallende Ähnlichkeit, dass wir, obwohl das vierte
Evangelium den Vorfall in die Tage der Auferstehung Je-
su verlegt, doch nicht umhin können, wie wir sie schon
früher ihrem einen Theile nach mit der Erzählung vom
Fischzug Petri in Verbindung brachten, so nun ihren an-
dern Bestandtheil mit dem Wandeln Jesu und Petri auf
dem Meer in Parallele zu setzen. Beidemale wird in dem
noch nächtlichen Dunkel des Frühmorgens Jesus von den
im Schiffe befindlichen Jüngern erblickt, nur dass er bei
dem späteren Falle nicht wie in dem früheren auf dem
Meere geht, sondern am Ufer steht, und die Jünger nicht
durch Sturm, sondern nur durch die Fruchtlosigkeit ihrer
Fischerarbeit in Verlegenheit gesezt sind. Beidemale fürch-
ten sie ihn: dort, weil sie ihn für ein Gespenst halten,
hier wagt es keiner, zu fragen, wer er sei, eidotes, oti o
Kurios esin. Im Besondern aber findet die dem ersten
Evangelium eigenthümliche Scene mit Petrus in der genann-
ten Stelle des vierten ihre Parallele. Wie Petrus dort,

19) s. die Stellen bei Wetstein, p. 417 f.
20) Jamblich. vita Pythagorae 136, vgl. Porphyr. 29.
21) Lucian. Philopseudes, 13.

Neuntes Kapitel. §. 97.
Vieles zu erzählen. Abgesehen von eigenthümlich griechi-
schen Vorstellungen 19), so schrieb die orientalisch-grie-
chische Sage dem Hyperboreer Abaris einen Pfeil zu,
auf welchem er über Flüsse, Meere und Abgründe schwe-
bend sezte 20); der gemeine Volksglaube lieh manchen
Thaumaturgen die Fähigkeit, auf dem Wasser zu gehen 21):
und es erscheint so die Möglichkeit, daſs sich aus allen
diesen Elementen und Veranlassungen eine gleiche Sage
auch über Jesum bilden konnte, ungleich gröſser, als die
eines wirklichen Vorgangs dieser Art, — womit unsre
Rechnung geschlossen ist.

Mit den bisher betrachteten Seeanekdoten hat die Joh.
21. erzählte φανέρωσις Jesu ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης τῆς Τιβεριά-
δος so auffallende Ähnlichkeit, daſs wir, obwohl das vierte
Evangelium den Vorfall in die Tage der Auferstehung Je-
su verlegt, doch nicht umhin können, wie wir sie schon
früher ihrem einen Theile nach mit der Erzählung vom
Fischzug Petri in Verbindung brachten, so nun ihren an-
dern Bestandtheil mit dem Wandeln Jesu und Petri auf
dem Meer in Parallele zu setzen. Beidemale wird in dem
noch nächtlichen Dunkel des Frühmorgens Jesus von den
im Schiffe befindlichen Jüngern erblickt, nur daſs er bei
dem späteren Falle nicht wie in dem früheren auf dem
Meere geht, sondern am Ufer steht, und die Jünger nicht
durch Sturm, sondern nur durch die Fruchtlosigkeit ihrer
Fischerarbeit in Verlegenheit gesezt sind. Beidemale fürch-
ten sie ihn: dort, weil sie ihn für ein Gespenst halten,
hier wagt es keiner, zu fragen, wer er sei, εἰδότες, ὅτι ὁ
Κύριός ἐςιν. Im Besondern aber findet die dem ersten
Evangelium eigenthümliche Scene mit Petrus in der genann-
ten Stelle des vierten ihre Parallele. Wie Petrus dort,

19) s. die Stellen bei Wetstein, p. 417 f.
20) Jamblich. vita Pythagorae 136, vgl. Porphyr. 29.
21) Lucian. Philopseudes, 13.
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[191/0210] Neuntes Kapitel. §. 97. Vieles zu erzählen. Abgesehen von eigenthümlich griechi- schen Vorstellungen 19), so schrieb die orientalisch-grie- chische Sage dem Hyperboreer Abaris einen Pfeil zu, auf welchem er über Flüsse, Meere und Abgründe schwe- bend sezte 20); der gemeine Volksglaube lieh manchen Thaumaturgen die Fähigkeit, auf dem Wasser zu gehen 21): und es erscheint so die Möglichkeit, daſs sich aus allen diesen Elementen und Veranlassungen eine gleiche Sage auch über Jesum bilden konnte, ungleich gröſser, als die eines wirklichen Vorgangs dieser Art, — womit unsre Rechnung geschlossen ist. Mit den bisher betrachteten Seeanekdoten hat die Joh. 21. erzählte φανέρωσις Jesu ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης τῆς Τιβεριά- δος so auffallende Ähnlichkeit, daſs wir, obwohl das vierte Evangelium den Vorfall in die Tage der Auferstehung Je- su verlegt, doch nicht umhin können, wie wir sie schon früher ihrem einen Theile nach mit der Erzählung vom Fischzug Petri in Verbindung brachten, so nun ihren an- dern Bestandtheil mit dem Wandeln Jesu und Petri auf dem Meer in Parallele zu setzen. Beidemale wird in dem noch nächtlichen Dunkel des Frühmorgens Jesus von den im Schiffe befindlichen Jüngern erblickt, nur daſs er bei dem späteren Falle nicht wie in dem früheren auf dem Meere geht, sondern am Ufer steht, und die Jünger nicht durch Sturm, sondern nur durch die Fruchtlosigkeit ihrer Fischerarbeit in Verlegenheit gesezt sind. Beidemale fürch- ten sie ihn: dort, weil sie ihn für ein Gespenst halten, hier wagt es keiner, zu fragen, wer er sei, εἰδότες, ὅτι ὁ Κύριός ἐςιν. Im Besondern aber findet die dem ersten Evangelium eigenthümliche Scene mit Petrus in der genann- ten Stelle des vierten ihre Parallele. Wie Petrus dort, 19) s. die Stellen bei Wetstein, p. 417 f. 20) Jamblich. vita Pythagorae 136, vgl. Porphyr. 29. 21) Lucian. Philopseudes, 13.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/210>, abgerufen am 28.04.2024.