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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
grossen, das sei nicht zu bestimmen 9). Ein beschleunig-
ter Naturprocess wäre es gewesen, wenn in Jesu Hand
je ein Korn hundertfältige Frucht getragen und zur Reife
gebracht, und er die vermehrten Körner aus immer vollen
Händen dem Volke hingeschüttet hätte, um sie von diesem
zerreiben, kneten und backen, oder in der Wüste, wo sie
waren, roh aus den Hülsen heraus geniessen zu lassen;
wenn er einen lebendigen Fisch genommen, und die Eier
in dessen Leibe plözlich hervorgerufen, befruchtet, und zu
ausgewachsenen Fischen gemacht hätte, welche dann die
Jünger oder das Volk hätten sieden oder braten mögen.
So hingegen nimmt er nicht Korn in die Hand, sondern
Brot, und auch die Fische müssen, so wie sie in Stücken
ausgetheilt werden, irgendwie zubereitet, vielleicht, wie
Luc. 24, 42. vgl. Joh. 21, 9. gebraten, oder eingesalzen ge-
wesen sein. Hier ist also auf beiden Seiten kein reines,
lebendiges Naturprodukt mehr, sondern ein todtes und durch
Kunst modificirtes; um ein solches in einen Naturprocess
jener Art zu versetzen, hätte Jesus vor Allem durch seine
Wunderkraft aus dem Brot wieder Körner, aus den Brat-
fischen wieder rohe und lebende machen, dann geschwind
die beschriebene Vermehrung vornehmen, endlich sämmt-
liches Vermehrte vom Naturzustand in den künstlichen zu-
rückversetzen müssen. So wäre mithin dieses Wunder zu-
sammengesezt 1) aus einer Wiederbelebung, welche alle
sonst in den Evangelien erzählte an Mirakulosität überträ-
fe; 2) aus einem höchst beschleunigten Naturprocess, und
3) aus einem unsichtbar vorgenommenen und ebenfalls höchst
beschleunigten Kunstprocess, indem alle die langen Proce-
duren des Müllers und Bäckers auf der einen, und des
Kochs auf der andern Seite durch Jesu Wort in einem Au-
genblick müssten vor sich gegangen sein. Wie mag also
Olshausen sich selbst und den glaubigen Leser durch den

9) So nach Pfenninger, Olshausen, 1, S. 489 f. vgl. Hase, §. 97.

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groſsen, das sei nicht zu bestimmen 9). Ein beschleunig-
ter Naturproceſs wäre es gewesen, wenn in Jesu Hand
je ein Korn hundertfältige Frucht getragen und zur Reife
gebracht, und er die vermehrten Körner aus immer vollen
Händen dem Volke hingeschüttet hätte, um sie von diesem
zerreiben, kneten und backen, oder in der Wüste, wo sie
waren, roh aus den Hülsen heraus geniessen zu lassen;
wenn er einen lebendigen Fisch genommen, und die Eier
in dessen Leibe plözlich hervorgerufen, befruchtet, und zu
ausgewachsenen Fischen gemacht hätte, welche dann die
Jünger oder das Volk hätten sieden oder braten mögen.
So hingegen nimmt er nicht Korn in die Hand, sondern
Brot, und auch die Fische müssen, so wie sie in Stücken
ausgetheilt werden, irgendwie zubereitet, vielleicht, wie
Luc. 24, 42. vgl. Joh. 21, 9. gebraten, oder eingesalzen ge-
wesen sein. Hier ist also auf beiden Seiten kein reines,
lebendiges Naturprodukt mehr, sondern ein todtes und durch
Kunst modificirtes; um ein solches in einen Naturproceſs
jener Art zu versetzen, hätte Jesus vor Allem durch seine
Wunderkraft aus dem Brot wieder Körner, aus den Brat-
fischen wieder rohe und lebende machen, dann geschwind
die beschriebene Vermehrung vornehmen, endlich sämmt-
liches Vermehrte vom Naturzustand in den künstlichen zu-
rückversetzen müssen. So wäre mithin dieses Wunder zu-
sammengesezt 1) aus einer Wiederbelebung, welche alle
sonst in den Evangelien erzählte an Mirakulosität überträ-
fe; 2) aus einem höchst beschleunigten Naturproceſs, und
3) aus einem unsichtbar vorgenommenen und ebenfalls höchst
beschleunigten Kunstproceſs, indem alle die langen Proce-
duren des Müllers und Bäckers auf der einen, und des
Kochs auf der andern Seite durch Jesu Wort in einem Au-
genblick müſsten vor sich gegangen sein. Wie mag also
Olshausen sich selbst und den glaubigen Leser durch den

9) So nach Pfenninger, Olshausen, 1, S. 489 f. vgl. Hase, §. 97.
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[206/0225] Zweiter Abschnitt. groſsen, das sei nicht zu bestimmen 9). Ein beschleunig- ter Naturproceſs wäre es gewesen, wenn in Jesu Hand je ein Korn hundertfältige Frucht getragen und zur Reife gebracht, und er die vermehrten Körner aus immer vollen Händen dem Volke hingeschüttet hätte, um sie von diesem zerreiben, kneten und backen, oder in der Wüste, wo sie waren, roh aus den Hülsen heraus geniessen zu lassen; wenn er einen lebendigen Fisch genommen, und die Eier in dessen Leibe plözlich hervorgerufen, befruchtet, und zu ausgewachsenen Fischen gemacht hätte, welche dann die Jünger oder das Volk hätten sieden oder braten mögen. So hingegen nimmt er nicht Korn in die Hand, sondern Brot, und auch die Fische müssen, so wie sie in Stücken ausgetheilt werden, irgendwie zubereitet, vielleicht, wie Luc. 24, 42. vgl. Joh. 21, 9. gebraten, oder eingesalzen ge- wesen sein. Hier ist also auf beiden Seiten kein reines, lebendiges Naturprodukt mehr, sondern ein todtes und durch Kunst modificirtes; um ein solches in einen Naturproceſs jener Art zu versetzen, hätte Jesus vor Allem durch seine Wunderkraft aus dem Brot wieder Körner, aus den Brat- fischen wieder rohe und lebende machen, dann geschwind die beschriebene Vermehrung vornehmen, endlich sämmt- liches Vermehrte vom Naturzustand in den künstlichen zu- rückversetzen müssen. So wäre mithin dieses Wunder zu- sammengesezt 1) aus einer Wiederbelebung, welche alle sonst in den Evangelien erzählte an Mirakulosität überträ- fe; 2) aus einem höchst beschleunigten Naturproceſs, und 3) aus einem unsichtbar vorgenommenen und ebenfalls höchst beschleunigten Kunstproceſs, indem alle die langen Proce- duren des Müllers und Bäckers auf der einen, und des Kochs auf der andern Seite durch Jesu Wort in einem Au- genblick müſsten vor sich gegangen sein. Wie mag also Olshausen sich selbst und den glaubigen Leser durch den 9) So nach Pfenninger, Olshausen, 1, S. 489 f. vgl. Hase, §. 97.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/225>, abgerufen am 29.04.2024.