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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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wirklich Glauben verdiene? Für ihre ausgezeichnete Glaub-
würdigkeit führt man gewöhnlich die Übereinstimmung
sämmtlicher 4 Evangelisten in derselben an: aber diese
Übereinstimmung ist so vollständig nicht. Zwar die Dif-
ferenzen, welche zwischen Matthäus und Lukas, und wie-
der zwischen diesen beiden und dem auch hier ausmalen-
den Markus stattfinden, ferner zwischen sämmtlichen Syn-
optikern und Johannes darin, dass jene den Vorgang
schlechtweg an einen topos eremos, dieser ihn auf ein oros
versezt, und dass den Synoptikern zufolge die Handlung
durch eine Anrede der Jünger, nach Johannes durch ei-
ne Frage Jesu eröffnet ist (zwei Züge, worin, wie bereits
bemerkt, die johanneische Erzählung sich dem Bericht des
Matthäus und Markus von der zweiten Speisung nähert),
endlich noch die Differenz, dass die Reden, welche die
drei ersten Evangelisten unbestimmt tois mathetais in den
Mund legen, der vierte in seiner individualisirenden Wei-
se namentlich dem Philippus und Andreas leiht, welcher
leztere auch als Träger der Brote und Fische bestimmt ein
paidarion angiebt, -- diese Abweichungen können wir als
minder wesentlich übergehen, um nur an Eine uns zu hal-
ten, welche tiefer eingreift. Während nämlich nach den
synoptischen Berichten Jesus die Volksmenge zuerst lange
belehrt und ihre Kranken geheilt hatte, und erst durch
den einbrechenden Abend und die bemerkte Verspätung
veranlasst wurde, sie noch zu speisen: ist bei Johannes,
sobald er nur die Augen aufhebt und das Volk heranzie-
hen sieht, Jesu erster Gedanke der, welchen er in der
Frage an den Philippus ausspricht: woher Brot nehmen,
um diese zu speisen? oder, da er diess nur peirazon frag-
te, wohlwissend, ti emelle poiein, der Vorsaz, hier eine
wunderbare Speisung zu veranstalten. Wie konnte denn
aber Jesu bei'm ersten Herannahen des Volks sogleich die
Aufgabe entstehen, ihm zu essen zu geben? Desshalb
kam es ja gar nicht zu ihm, sondern um seiner Lehre und

Zweiter Abschnitt.
wirklich Glauben verdiene? Für ihre ausgezeichnete Glaub-
würdigkeit führt man gewöhnlich die Übereinstimmung
sämmtlicher 4 Evangelisten in derselben an: aber diese
Übereinstimmung ist so vollständig nicht. Zwar die Dif-
ferenzen, welche zwischen Matthäus und Lukas, und wie-
der zwischen diesen beiden und dem auch hier ausmalen-
den Markus stattfinden, ferner zwischen sämmtlichen Syn-
optikern und Johannes darin, daſs jene den Vorgang
schlechtweg an einen τόπος ἔρημος, dieser ihn auf ein ὄρος
versezt, und daſs den Synoptikern zufolge die Handlung
durch eine Anrede der Jünger, nach Johannes durch ei-
ne Frage Jesu eröffnet ist (zwei Züge, worin, wie bereits
bemerkt, die johanneische Erzählung sich dem Bericht des
Matthäus und Markus von der zweiten Speisung nähert),
endlich noch die Differenz, daſs die Reden, welche die
drei ersten Evangelisten unbestimmt τοῖς μαϑηταῖς in den
Mund legen, der vierte in seiner individualisirenden Wei-
se namentlich dem Philippus und Andreas leiht, welcher
leztere auch als Träger der Brote und Fische bestimmt ein
παιδάριον angiebt, — diese Abweichungen können wir als
minder wesentlich übergehen, um nur an Eine uns zu hal-
ten, welche tiefer eingreift. Während nämlich nach den
synoptischen Berichten Jesus die Volksmenge zuerst lange
belehrt und ihre Kranken geheilt hatte, und erst durch
den einbrechenden Abend und die bemerkte Verspätung
veranlaſst wurde, sie noch zu speisen: ist bei Johannes,
sobald er nur die Augen aufhebt und das Volk heranzie-
hen sieht, Jesu erster Gedanke der, welchen er in der
Frage an den Philippus ausspricht: woher Brot nehmen,
um diese zu speisen? oder, da er dieſs nur πειράζων frag-
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[212/0231] Zweiter Abschnitt. wirklich Glauben verdiene? Für ihre ausgezeichnete Glaub- würdigkeit führt man gewöhnlich die Übereinstimmung sämmtlicher 4 Evangelisten in derselben an: aber diese Übereinstimmung ist so vollständig nicht. Zwar die Dif- ferenzen, welche zwischen Matthäus und Lukas, und wie- der zwischen diesen beiden und dem auch hier ausmalen- den Markus stattfinden, ferner zwischen sämmtlichen Syn- optikern und Johannes darin, daſs jene den Vorgang schlechtweg an einen τόπος ἔρημος, dieser ihn auf ein ὄρος versezt, und daſs den Synoptikern zufolge die Handlung durch eine Anrede der Jünger, nach Johannes durch ei- ne Frage Jesu eröffnet ist (zwei Züge, worin, wie bereits bemerkt, die johanneische Erzählung sich dem Bericht des Matthäus und Markus von der zweiten Speisung nähert), endlich noch die Differenz, daſs die Reden, welche die drei ersten Evangelisten unbestimmt τοῖς μαϑηταῖς in den Mund legen, der vierte in seiner individualisirenden Wei- se namentlich dem Philippus und Andreas leiht, welcher leztere auch als Träger der Brote und Fische bestimmt ein παιδάριον angiebt, — diese Abweichungen können wir als minder wesentlich übergehen, um nur an Eine uns zu hal- ten, welche tiefer eingreift. Während nämlich nach den synoptischen Berichten Jesus die Volksmenge zuerst lange belehrt und ihre Kranken geheilt hatte, und erst durch den einbrechenden Abend und die bemerkte Verspätung veranlaſst wurde, sie noch zu speisen: ist bei Johannes, sobald er nur die Augen aufhebt und das Volk heranzie- hen sieht, Jesu erster Gedanke der, welchen er in der Frage an den Philippus ausspricht: woher Brot nehmen, um diese zu speisen? oder, da er dieſs nur πειράζων frag- te, wohlwissend, τί ἤμελλε ποιεῖν, der Vorsaz, hier eine wunderbare Speisung zu veranstalten. Wie konnte denn aber Jesu bei'm ersten Herannahen des Volks sogleich die Aufgabe entstehen, ihm zu essen zu geben? Deſshalb kam es ja gar nicht zu ihm, sondern um seiner Lehre und

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/231>, abgerufen am 29.04.2024.