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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zehntes Kapitel. §. 105.
optischen, viele Juden von Jerusalem nach Bethanien hin-
aus, weil sie von Jesu Ankunft gehört hatten, und nun
ihn und den von ihm erweckten Lazarus sehen wollten
(V. 9. vgl. 12.). Allein wie konnten sie am Tag des syn-
optischen Einzugs hören, dass Jesus in Bethanien sei? an
jenem Tage gieng ja Jesus Bethanien vorbei oder durch,
und zog gerade nach Jerusalem, von wo er nach allen Er-
zählungen erst so spät Abends nach Bethanien hinausge-
gangen sein kann, dass Juden, die nun erst von Jerusa-
lem aus dahin giengen, nicht mehr hoffen konnten, ihn
noch sehen zu können 4). Wofür mochten sie aber nur
sich die Mühe nehmen, Jesum in Bethanien aufzusuchen,
da sie ihn doch an jenem Tag in Jerusalem selber hatten?
gewiss müsste es in diesem Falle nicht bloss heissen, sie
seien oudia ton Iesoun monon, all ina kai tun Lazaron
idosi, gekommen, sondern, Jesum haben sie zwar in Jeru-
salem selbst gesehen gehabt, nun aber haben sie auch noch
den Lazarus sehen wollen, und seien desswegen nach Be-
thanien gegangen; wogegen der Evangelist, welcher Leute
von Jerusalem aus, um Jesum zu sehen, nach Bethanien
gehen lässt, unmöglich vorausgesezt haben kann, dass eben
an diesem nämlichen Tage Jesus in Jerusalem zu sehen
gewesen sei. Auch das Weitere, wenn es bei Johannes
heisst, am folgenden Tag habe man in Jerusalem gehört,
dass Jesus dahin komme (V. 12.), klingt gar nicht so, wie
wenn Jesus schon am Tag vorher daselbst gewesen wäre,
sondern als ob man von Bethanien aus erfahren hätte, dass
er heute vollends hereinkommen würde; so wie auch der
Empfang, den man ihm sofort bereitet, nur als Verherr-
lichung seines ersten Eintritts in die Hauptstadt einen rech-
ten Sinn hat, bei seiner zweiten Dahinkunft aber nur et-
wa dann füglich hätte veranstaltet werden können, wenn
Jesus Tags zuvor unbemerkt und ungeehrt hereingekom-

4) vgl. Lücke, 2, S. 432. Anm.

Zehntes Kapitel. §. 105.
optischen, viele Juden von Jerusalem nach Bethanien hin-
aus, weil sie von Jesu Ankunft gehört hatten, und nun
ihn und den von ihm erweckten Lazarus sehen wollten
(V. 9. vgl. 12.). Allein wie konnten sie am Tag des syn-
optischen Einzugs hören, daſs Jesus in Bethanien sei? an
jenem Tage gieng ja Jesus Bethanien vorbei oder durch,
und zog gerade nach Jerusalem, von wo er nach allen Er-
zählungen erst so spät Abends nach Bethanien hinausge-
gangen sein kann, daſs Juden, die nun erst von Jerusa-
lem aus dahin giengen, nicht mehr hoffen konnten, ihn
noch sehen zu können 4). Wofür mochten sie aber nur
sich die Mühe nehmen, Jesum in Bethanien aufzusuchen,
da sie ihn doch an jenem Tag in Jerusalem selber hatten?
gewiſs müſste es in diesem Falle nicht bloſs heiſsen, sie
seien ουδιὰ τὸν Ἰησοῦν μόνον, ἀλλ̕ ἵνα καὶ τὺν Λάζαρον
ἴδωσι, gekommen, sondern, Jesum haben sie zwar in Jeru-
salem selbst gesehen gehabt, nun aber haben sie auch noch
den Lazarus sehen wollen, und seien deſswegen nach Be-
thanien gegangen; wogegen der Evangelist, welcher Leute
von Jerusalem aus, um Jesum zu sehen, nach Bethanien
gehen läſst, unmöglich vorausgesezt haben kann, daſs eben
an diesem nämlichen Tage Jesus in Jerusalem zu sehen
gewesen sei. Auch das Weitere, wenn es bei Johannes
heiſst, am folgenden Tag habe man in Jerusalem gehört,
daſs Jesus dahin komme (V. 12.), klingt gar nicht so, wie
wenn Jesus schon am Tag vorher daselbst gewesen wäre,
sondern als ob man von Bethanien aus erfahren hätte, daſs
er heute vollends hereinkommen würde; so wie auch der
Empfang, den man ihm sofort bereitet, nur als Verherr-
lichung seines ersten Eintritts in die Hauptstadt einen rech-
ten Sinn hat, bei seiner zweiten Dahinkunft aber nur et-
wa dann füglich hätte veranstaltet werden können, wenn
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4) vgl. Lücke, 2, S. 432. Anm.
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[285/0304] Zehntes Kapitel. §. 105. optischen, viele Juden von Jerusalem nach Bethanien hin- aus, weil sie von Jesu Ankunft gehört hatten, und nun ihn und den von ihm erweckten Lazarus sehen wollten (V. 9. vgl. 12.). Allein wie konnten sie am Tag des syn- optischen Einzugs hören, daſs Jesus in Bethanien sei? an jenem Tage gieng ja Jesus Bethanien vorbei oder durch, und zog gerade nach Jerusalem, von wo er nach allen Er- zählungen erst so spät Abends nach Bethanien hinausge- gangen sein kann, daſs Juden, die nun erst von Jerusa- lem aus dahin giengen, nicht mehr hoffen konnten, ihn noch sehen zu können 4). Wofür mochten sie aber nur sich die Mühe nehmen, Jesum in Bethanien aufzusuchen, da sie ihn doch an jenem Tag in Jerusalem selber hatten? gewiſs müſste es in diesem Falle nicht bloſs heiſsen, sie seien ουδιὰ τὸν Ἰησοῦν μόνον, ἀλλ̕ ἵνα καὶ τὺν Λάζαρον ἴδωσι, gekommen, sondern, Jesum haben sie zwar in Jeru- salem selbst gesehen gehabt, nun aber haben sie auch noch den Lazarus sehen wollen, und seien deſswegen nach Be- thanien gegangen; wogegen der Evangelist, welcher Leute von Jerusalem aus, um Jesum zu sehen, nach Bethanien gehen läſst, unmöglich vorausgesezt haben kann, daſs eben an diesem nämlichen Tage Jesus in Jerusalem zu sehen gewesen sei. Auch das Weitere, wenn es bei Johannes heiſst, am folgenden Tag habe man in Jerusalem gehört, daſs Jesus dahin komme (V. 12.), klingt gar nicht so, wie wenn Jesus schon am Tag vorher daselbst gewesen wäre, sondern als ob man von Bethanien aus erfahren hätte, daſs er heute vollends hereinkommen würde; so wie auch der Empfang, den man ihm sofort bereitet, nur als Verherr- lichung seines ersten Eintritts in die Hauptstadt einen rech- ten Sinn hat, bei seiner zweiten Dahinkunft aber nur et- wa dann füglich hätte veranstaltet werden können, wenn Jesus Tags zuvor unbemerkt und ungeehrt hereingekom- 4) vgl. Lücke, 2, S. 432. Anm.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/304>, abgerufen am 29.04.2024.