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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Erstes Kapitel. §. 110.
des Referenten in den Sinn der räthselhaften Rede einzu-
dringen, welche er Jesu in den Mund legt 4). Der Auf-
fassung der Juden, welche die Worte Jesu auf ein wirkli-
ches Abbrechen und Wiederaufbauen des Nationalheilig-
thums bezogen, kann man nicht beistimmen wollen, ohne
Jesu gegen seinen sonstigen Charakter eine in's Ungeheu-
re getriebene leere Grosssprecherei zuzuschreiben. Sieht
man sich desswegen nach einem irgendwie uneigentlichen
Verstande des Ausspruchs um, so begegnet man in demsel-
ben Evangelium zuerst der Stelle 4, 21 ff., wo Jesus der
Samariterin verkündigt, es komme nächstens die Zeit, wo
man nicht mehr en Ierosolumois den Vater anbeten, son-
dern ihn als Geist geistig verehren werde. Eine Abro-
girung des vermeintlich allein gültigen Tempelcultus zu Je-
rusalem könnte das luein des naos auch in unsrer Stelle
ursprünglich bedeutet haben. Diese Auffassung wird durch
eine Erzählung der Apostelgeschichte, 6, 14., bestätigt.
Stephanus, welcher, wie es scheint, den in Frage stehen-
den Ausspruch Jesu adoptirt hatte, wurde von seinen An-
klägern beschuldigt, geäussert zu haben, oti Iesous o Na-
zoraios outos katalusei ton topon touton, kai allaxei ta
ethe, a paredoke Mouses, wo demnach als Folge des Tem-
pelabbruchs eine Änderung der mosaischen Religionsver-
fassung, ohne Zweifel eine Vergeistigung derselben, be-
zeichnet wird. Dazu kommt noch eine Stelle in den
synoptischen Evangelien. Dieselben Worte beinahe, wel-
che bei Johannes Jesus selbst ausspricht, kommen in den
zwei ersten Evangelien (Matth. 26, 60 f. Marc. 14, 57 f.)
als Anklage falscher Zeugen gegen ihn vor, und hier hat
Markus den Zusaz, dass er den abzubrechenden naos als
kheiropoietos, den von Jesus neu zu bauenden als allos,

4) So, ausser Henke im angef. Programm, Herder, von Gottes
Sohn nach Johannes Evang., S. 135 f.; Paulus, Comm. 4,
S. 165 f. L. J. 1, a, S. 173 f.; Lücke, z. d. St.

Erstes Kapitel. §. 110.
des Referenten in den Sinn der räthselhaften Rede einzu-
dringen, welche er Jesu in den Mund legt 4). Der Auf-
fassung der Juden, welche die Worte Jesu auf ein wirkli-
ches Abbrechen und Wiederaufbauen des Nationalheilig-
thums bezogen, kann man nicht beistimmen wollen, ohne
Jesu gegen seinen sonstigen Charakter eine in's Ungeheu-
re getriebene leere Groſssprecherei zuzuschreiben. Sieht
man sich deſswegen nach einem irgendwie uneigentlichen
Verstande des Ausspruchs um, so begegnet man in demsel-
ben Evangelium zuerst der Stelle 4, 21 ff., wo Jesus der
Samariterin verkündigt, es komme nächstens die Zeit, wo
man nicht mehr ἐν Ἱεροσολύμοις den Vater anbeten, son-
dern ihn als Geist geistig verehren werde. Eine Abro-
girung des vermeintlich allein gültigen Tempelcultus zu Je-
rusalem könnte das λύειν des ναὸς auch in unsrer Stelle
ursprünglich bedeutet haben. Diese Auffassung wird durch
eine Erzählung der Apostelgeschichte, 6, 14., bestätigt.
Stephanus, welcher, wie es scheint, den in Frage stehen-
den Ausspruch Jesu adoptirt hatte, wurde von seinen An-
klägern beschuldigt, geäussert zu haben, ὅτι Ἰησοῦς ὁ Να-
ζωραῖος οὖτος καταλύσει τὸν τόπον τοῦτον, καὶ ἀλλάξει τὰ
ἔϑη, ἃ παρέδωκε Μωϋσῆς, wo demnach als Folge des Tem-
pelabbruchs eine Änderung der mosaischen Religionsver-
fassung, ohne Zweifel eine Vergeistigung derselben, be-
zeichnet wird. Dazu kommt noch eine Stelle in den
synoptischen Evangelien. Dieselben Worte beinahe, wel-
che bei Johannes Jesus selbst ausspricht, kommen in den
zwei ersten Evangelien (Matth. 26, 60 f. Marc. 14, 57 f.)
als Anklage falscher Zeugen gegen ihn vor, und hier hat
Markus den Zusaz, daſs er den abzubrechenden ναὸς als
χειροποίητος, den von Jesus neu zu bauenden als ἄλλος,

4) So, ausser Henke im angef. Programm, Herder, von Gottes
Sohn nach Johannes Evang., S. 135 f.; Paulus, Comm. 4,
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[331/0350] Erstes Kapitel. §. 110. des Referenten in den Sinn der räthselhaften Rede einzu- dringen, welche er Jesu in den Mund legt 4). Der Auf- fassung der Juden, welche die Worte Jesu auf ein wirkli- ches Abbrechen und Wiederaufbauen des Nationalheilig- thums bezogen, kann man nicht beistimmen wollen, ohne Jesu gegen seinen sonstigen Charakter eine in's Ungeheu- re getriebene leere Groſssprecherei zuzuschreiben. Sieht man sich deſswegen nach einem irgendwie uneigentlichen Verstande des Ausspruchs um, so begegnet man in demsel- ben Evangelium zuerst der Stelle 4, 21 ff., wo Jesus der Samariterin verkündigt, es komme nächstens die Zeit, wo man nicht mehr ἐν Ἱεροσολύμοις den Vater anbeten, son- dern ihn als Geist geistig verehren werde. Eine Abro- girung des vermeintlich allein gültigen Tempelcultus zu Je- rusalem könnte das λύειν des ναὸς auch in unsrer Stelle ursprünglich bedeutet haben. Diese Auffassung wird durch eine Erzählung der Apostelgeschichte, 6, 14., bestätigt. Stephanus, welcher, wie es scheint, den in Frage stehen- den Ausspruch Jesu adoptirt hatte, wurde von seinen An- klägern beschuldigt, geäussert zu haben, ὅτι Ἰησοῦς ὁ Να- ζωραῖος οὖτος καταλύσει τὸν τόπον τοῦτον, καὶ ἀλλάξει τὰ ἔϑη, ἃ παρέδωκε Μωϋσῆς, wo demnach als Folge des Tem- pelabbruchs eine Änderung der mosaischen Religionsver- fassung, ohne Zweifel eine Vergeistigung derselben, be- zeichnet wird. Dazu kommt noch eine Stelle in den synoptischen Evangelien. Dieselben Worte beinahe, wel- che bei Johannes Jesus selbst ausspricht, kommen in den zwei ersten Evangelien (Matth. 26, 60 f. Marc. 14, 57 f.) als Anklage falscher Zeugen gegen ihn vor, und hier hat Markus den Zusaz, daſs er den abzubrechenden ναὸς als χειροποίητος, den von Jesus neu zu bauenden als ἄλλος, 4) So, ausser Henke im angef. Programm, Herder, von Gottes Sohn nach Johannes Evang., S. 135 f.; Paulus, Comm. 4, S. 165 f. L. J. 1, a, S. 173 f.; Lücke, z. d. St.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/350>, abgerufen am 30.04.2024.