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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen
werden, dass die angezeigten Stellen im Daniel auf die
Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes
sich beziehen 8), also die Deutung derselben, welche die
Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol-
che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom-
men, sondern er müsste hierin seiner menschlichen Gei-
steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er
mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von
so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein-
zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird
von hier aus auf die Vermuthung geführt, dass diese Re-
den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht
vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son-
dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund
gelegt worden seien. So nimmt z. B. Kaiser an, Jesus ha-
be nur bedingt, für den Fall, dass die Nation sich nicht
durch den Messias retten liesse, dem Tempel und der Stadt
ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und
diess in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte
Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei-
ner Rede erst post eventum gegeben worden 9).

Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer
übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach-
ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die
Möglichkeit darzuthun, dass, was hier vorausgesagt wird,
wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön-
nen 10). Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem-
pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man,
durch den Schluss kommen, dass Gott alle Hindernisse des

8) Bertholdt, Daniel übersezt und erklärt, 2, S. 668 ff.; Pau-
lus
, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f.
9) bibl. Theol. 1, S. 247.
10) Paulus, Fritzsche, z. d. Absch.

Dritter Abschnitt.
jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen
werden, daſs die angezeigten Stellen im Daniel auf die
Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes
sich beziehen 8), also die Deutung derselben, welche die
Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol-
che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom-
men, sondern er müſste hierin seiner menschlichen Gei-
steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er
mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von
so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein-
zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird
von hier aus auf die Vermuthung geführt, daſs diese Re-
den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht
vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son-
dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund
gelegt worden seien. So nimmt z. B. Kaiser an, Jesus ha-
be nur bedingt, für den Fall, daſs die Nation sich nicht
durch den Messias retten lieſse, dem Tempel und der Stadt
ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und
dieſs in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte
Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei-
ner Rede erst post eventum gegeben worden 9).

Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer
übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach-
ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die
Möglichkeit darzuthun, daſs, was hier vorausgesagt wird,
wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön-
nen 10). Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem-
pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man,
durch den Schluſs kommen, daſs Gott alle Hindernisse des

8) Bertholdt, Daniel übersezt und erklärt, 2, S. 668 ff.; Pau-
lus
, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f.
9) bibl. Theol. 1, S. 247.
10) Paulus, Fritzsche, z. d. Absch.
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[360/0379] Dritter Abschnitt. jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen werden, daſs die angezeigten Stellen im Daniel auf die Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes sich beziehen 8), also die Deutung derselben, welche die Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol- che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom- men, sondern er müſste hierin seiner menschlichen Gei- steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein- zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird von hier aus auf die Vermuthung geführt, daſs diese Re- den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son- dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund gelegt worden seien. So nimmt z. B. Kaiser an, Jesus ha- be nur bedingt, für den Fall, daſs die Nation sich nicht durch den Messias retten lieſse, dem Tempel und der Stadt ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und dieſs in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei- ner Rede erst post eventum gegeben worden 9). Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach- ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die Möglichkeit darzuthun, daſs, was hier vorausgesagt wird, wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön- nen 10). Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem- pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man, durch den Schluſs kommen, daſs Gott alle Hindernisse des 8) Bertholdt, Daniel übersezt und erklärt, 2, S. 668 ff.; Pau- lus, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f. 9) bibl. Theol. 1, S. 247. 10) Paulus, Fritzsche, z. d. Absch.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/379>, abgerufen am 14.05.2024.