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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweites Kapitel. §. 115.
versuche des Synedriums, oder durch das Gerücht von des-
sen Plane, Jesum nach dem Fest insgeheim zu verhaften,
habe Judas diesem Anschlag, der Jesum verderben musste,
zuvorzukommen, und eine Verhaftung noch während des
Fests zu Stande zu bringen gesucht, wo er gewiss hoffen
zu können glaubte, Jesum durch einen Volksaufstand befreit,
ebendamit aber genöthigt zu sehen, sich endlich dem Volk
in die Arme zu werfen, und zur Gründung seiner Herr-
schaft den entscheidenden Schritt zu thun. Da er Jesum
von der Nothwendigkeit seiner Gefangennehmung, und
dass er in drei Tagen sich wieder erheben werde, spre-
chen hörte, habe er diess als Zeichen der Einstimmung Je-
su in seinen Plan genommen, in diesem Wahne dessen
übrige abmahnende Reden theils überhört, theils falsch ge-
deutet, namentlich das o poieis, poieson takhion als eine
wirkliche Ermunterung Jesu zur Ausführung seines Vor-
habens aufgefasst. Die 30 Silberlinge habe er von den
Priestern genommen, entweder um seine wahre Absicht
hinter den Schein der Habsucht zu verbergen, und ihnen
dadurch jeden Verdacht zu benehmen, oder habe er neben
der Erhebung zu einer der ersten Stellen im Reich seines
Meisters, die er erwartete, auch jenen kleinen Vortheil
noch mitnehmen wollen. Aber Judas habe sich in zwei
Punkten verrechnet: einmal, indem er nicht bedach-
te, dass nach der durchschmausten Paschanacht das Volk
nicht frühe zu einem Aufstand wach sein würde; zweitens,
indem er nicht erwog, dass das Synedrium eilen würde,
Jesum in die Hände der Römer zu bringen, denen ein
Volksaufstand ihn schwerlich zu entreissen im Stande war.
So soll nun Judas entweder ein verkannter braver Mann
(Schmidt); oder ein Getäuschter sein, der aber kein gemei-
ner Charakter, vielmehr in seiner Verzweiflung noch ein
Trümmer apostolischer Grösse war (Hase); oder soll er,
zwar durch ein schlechtes Mittel, doch einen guten Zweck
haben erreichen wollen (Paulus).

Zweites Kapitel. §. 115.
versuche des Synedriums, oder durch das Gerücht von des-
sen Plane, Jesum nach dem Fest insgeheim zu verhaften,
habe Judas diesem Anschlag, der Jesum verderben muſste,
zuvorzukommen, und eine Verhaftung noch während des
Fests zu Stande zu bringen gesucht, wo er gewiſs hoffen
zu können glaubte, Jesum durch einen Volksaufstand befreit,
ebendamit aber genöthigt zu sehen, sich endlich dem Volk
in die Arme zu werfen, und zur Gründung seiner Herr-
schaft den entscheidenden Schritt zu thun. Da er Jesum
von der Nothwendigkeit seiner Gefangennehmung, und
daſs er in drei Tagen sich wieder erheben werde, spre-
chen hörte, habe er dieſs als Zeichen der Einstimmung Je-
su in seinen Plan genommen, in diesem Wahne dessen
übrige abmahnende Reden theils überhört, theils falsch ge-
deutet, namentlich das ὃ ποιεῖς, ποίησον τάχιον als eine
wirkliche Ermunterung Jesu zur Ausführung seines Vor-
habens aufgefaſst. Die 30 Silberlinge habe er von den
Priestern genommen, entweder um seine wahre Absicht
hinter den Schein der Habsucht zu verbergen, und ihnen
dadurch jeden Verdacht zu benehmen, oder habe er neben
der Erhebung zu einer der ersten Stellen im Reich seines
Meisters, die er erwartete, auch jenen kleinen Vortheil
noch mitnehmen wollen. Aber Judas habe sich in zwei
Punkten verrechnet: einmal, indem er nicht bedach-
te, daſs nach der durchschmausten Paschanacht das Volk
nicht frühe zu einem Aufstand wach sein würde; zweitens,
indem er nicht erwog, daſs das Synedrium eilen würde,
Jesum in die Hände der Römer zu bringen, denen ein
Volksaufstand ihn schwerlich zu entreissen im Stande war.
So soll nun Judas entweder ein verkannter braver Mann
(Schmidt); oder ein Getäuschter sein, der aber kein gemei-
ner Charakter, vielmehr in seiner Verzweiflung noch ein
Trümmer apostolischer Gröſse war (Hase); oder soll er,
zwar durch ein schlechtes Mittel, doch einen guten Zweck
haben erreichen wollen (Paulus).

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[393/0412] Zweites Kapitel. §. 115. versuche des Synedriums, oder durch das Gerücht von des- sen Plane, Jesum nach dem Fest insgeheim zu verhaften, habe Judas diesem Anschlag, der Jesum verderben muſste, zuvorzukommen, und eine Verhaftung noch während des Fests zu Stande zu bringen gesucht, wo er gewiſs hoffen zu können glaubte, Jesum durch einen Volksaufstand befreit, ebendamit aber genöthigt zu sehen, sich endlich dem Volk in die Arme zu werfen, und zur Gründung seiner Herr- schaft den entscheidenden Schritt zu thun. Da er Jesum von der Nothwendigkeit seiner Gefangennehmung, und daſs er in drei Tagen sich wieder erheben werde, spre- chen hörte, habe er dieſs als Zeichen der Einstimmung Je- su in seinen Plan genommen, in diesem Wahne dessen übrige abmahnende Reden theils überhört, theils falsch ge- deutet, namentlich das ὃ ποιεῖς, ποίησον τάχιον als eine wirkliche Ermunterung Jesu zur Ausführung seines Vor- habens aufgefaſst. Die 30 Silberlinge habe er von den Priestern genommen, entweder um seine wahre Absicht hinter den Schein der Habsucht zu verbergen, und ihnen dadurch jeden Verdacht zu benehmen, oder habe er neben der Erhebung zu einer der ersten Stellen im Reich seines Meisters, die er erwartete, auch jenen kleinen Vortheil noch mitnehmen wollen. Aber Judas habe sich in zwei Punkten verrechnet: einmal, indem er nicht bedach- te, daſs nach der durchschmausten Paschanacht das Volk nicht frühe zu einem Aufstand wach sein würde; zweitens, indem er nicht erwog, daſs das Synedrium eilen würde, Jesum in die Hände der Römer zu bringen, denen ein Volksaufstand ihn schwerlich zu entreissen im Stande war. So soll nun Judas entweder ein verkannter braver Mann (Schmidt); oder ein Getäuschter sein, der aber kein gemei- ner Charakter, vielmehr in seiner Verzweiflung noch ein Trümmer apostolischer Gröſse war (Hase); oder soll er, zwar durch ein schlechtes Mittel, doch einen guten Zweck haben erreichen wollen (Paulus).

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/412>, abgerufen am 15.05.2024.