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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Viertes Kapitel. §. 136.
sich eigentlich verringerte. Denn so gleichgültig und un-
lebendig, wie bei einer Schachtel und deren Inhalt, darf
man sich doch das Zusammensein des Leibs und der Seele
auch bei der abstraktesten Trennung nicht denken, son-
dern die Gegenwart der Seele bringt im Körper Wirkun-
gen hervor, welche hinwiederum die Möglichkeit jener Ge-
genwart der Seele in ihm bedingen. Sobald also die Seele
den Körper verlassen hat, werden in diesem diejenigen
Thätigkeiten stille stehen, welche nach der dualistischen
Vorstellungsweise die unmittelbarsten Äusserungen des Ein-
flusses der Seele waren, ebendamit werden die Organe
dieser Thätigkeiten, Gehirn, Blut u. s. f., zu stocken und
starr zu werden beginnen, und zwar wird diese Verände-
rung mit dem Augenblick des wirklichen Todes ihren An-
fang nehmen. Könnte es also auch der entflohenen Seele
einfallen, oder sie durch einen Andern dazu genöthigt wer-
den, ihren vorigen Wohnsiz, den Körper, wieder aufzu-
suchen: so würde sie ihn doch nach den ersten Augenbli-
cken schon in seinen edelsten Theilen unbewohnbar und
für ihren Dienst untauglich finden. Wiederherstellen aber,
wie ein krankes Glied, könnte sie die unbrauchbar gewor-
denen unmittelbarsten Organe ihrer Wirksamkeit auf kei-
ne Weise, da sie, um irgend etwas im Körper zu wirken,
des Dienstes eben dieser Organe bedarf: sie müsste also,
ob auch wieder in den Leib zurückgebannt, denselben
doch geradezu vermodern lassen, weil sie keinen Einfluss
auf ihn auszuüben im Stande wäre; oder es müsste zu
dem Wunder ihrer Zurückführung in den Körper das zwei-
te einer Restaurirung ihrer abgestorbenen körperlichen Or-
gane hinzukommen -- ein unmittelbares Eingreifen Gottes
in den gesezlichen Verlauf des Naturlebens, wie es geläu-
terten Ansichten von dem Verhältniss Gottes zur Welt wi-
derspricht.

Sehr bestimmt hat daher die neuere Bildung in Be-
zug auf Jesum das Dilemma aufgestellt, dass er entweder

Viertes Kapitel. §. 136.
sich eigentlich verringerte. Denn so gleichgültig und un-
lebendig, wie bei einer Schachtel und deren Inhalt, darf
man sich doch das Zusammensein des Leibs und der Seele
auch bei der abstraktesten Trennung nicht denken, son-
dern die Gegenwart der Seele bringt im Körper Wirkun-
gen hervor, welche hinwiederum die Möglichkeit jener Ge-
genwart der Seele in ihm bedingen. Sobald also die Seele
den Körper verlassen hat, werden in diesem diejenigen
Thätigkeiten stille stehen, welche nach der dualistischen
Vorstellungsweise die unmittelbarsten Äusserungen des Ein-
flusses der Seele waren, ebendamit werden die Organe
dieser Thätigkeiten, Gehirn, Blut u. s. f., zu stocken und
starr zu werden beginnen, und zwar wird diese Verände-
rung mit dem Augenblick des wirklichen Todes ihren An-
fang nehmen. Könnte es also auch der entflohenen Seele
einfallen, oder sie durch einen Andern dazu genöthigt wer-
den, ihren vorigen Wohnsiz, den Körper, wieder aufzu-
suchen: so würde sie ihn doch nach den ersten Augenbli-
cken schon in seinen edelsten Theilen unbewohnbar und
für ihren Dienst untauglich finden. Wiederherstellen aber,
wie ein krankes Glied, könnte sie die unbrauchbar gewor-
denen unmittelbarsten Organe ihrer Wirksamkeit auf kei-
ne Weise, da sie, um irgend etwas im Körper zu wirken,
des Dienstes eben dieser Organe bedarf: sie müſste also,
ob auch wieder in den Leib zurückgebannt, denselben
doch geradezu vermodern lassen, weil sie keinen Einfluſs
auf ihn auszuüben im Stande wäre; oder es müſste zu
dem Wunder ihrer Zurückführung in den Körper das zwei-
te einer Restaurirung ihrer abgestorbenen körperlichen Or-
gane hinzukommen — ein unmittelbares Eingreifen Gottes
in den gesezlichen Verlauf des Naturlebens, wie es geläu-
terten Ansichten von dem Verhältniſs Gottes zur Welt wi-
derspricht.

Sehr bestimmt hat daher die neuere Bildung in Be-
zug auf Jesum das Dilemma aufgestellt, daſs er entweder

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[647/0666] Viertes Kapitel. §. 136. sich eigentlich verringerte. Denn so gleichgültig und un- lebendig, wie bei einer Schachtel und deren Inhalt, darf man sich doch das Zusammensein des Leibs und der Seele auch bei der abstraktesten Trennung nicht denken, son- dern die Gegenwart der Seele bringt im Körper Wirkun- gen hervor, welche hinwiederum die Möglichkeit jener Ge- genwart der Seele in ihm bedingen. Sobald also die Seele den Körper verlassen hat, werden in diesem diejenigen Thätigkeiten stille stehen, welche nach der dualistischen Vorstellungsweise die unmittelbarsten Äusserungen des Ein- flusses der Seele waren, ebendamit werden die Organe dieser Thätigkeiten, Gehirn, Blut u. s. f., zu stocken und starr zu werden beginnen, und zwar wird diese Verände- rung mit dem Augenblick des wirklichen Todes ihren An- fang nehmen. Könnte es also auch der entflohenen Seele einfallen, oder sie durch einen Andern dazu genöthigt wer- den, ihren vorigen Wohnsiz, den Körper, wieder aufzu- suchen: so würde sie ihn doch nach den ersten Augenbli- cken schon in seinen edelsten Theilen unbewohnbar und für ihren Dienst untauglich finden. Wiederherstellen aber, wie ein krankes Glied, könnte sie die unbrauchbar gewor- denen unmittelbarsten Organe ihrer Wirksamkeit auf kei- ne Weise, da sie, um irgend etwas im Körper zu wirken, des Dienstes eben dieser Organe bedarf: sie müſste also, ob auch wieder in den Leib zurückgebannt, denselben doch geradezu vermodern lassen, weil sie keinen Einfluſs auf ihn auszuüben im Stande wäre; oder es müſste zu dem Wunder ihrer Zurückführung in den Körper das zwei- te einer Restaurirung ihrer abgestorbenen körperlichen Or- gane hinzukommen — ein unmittelbares Eingreifen Gottes in den gesezlichen Verlauf des Naturlebens, wie es geläu- terten Ansichten von dem Verhältniſs Gottes zur Welt wi- derspricht. Sehr bestimmt hat daher die neuere Bildung in Be- zug auf Jesum das Dilemma aufgestellt, daſs er entweder

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/666>, abgerufen am 29.04.2024.