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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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gethanen Reise.
ungeachtet ist der Adel auch hier auf die Vorzüge sei-
nes Standes stolz.

Die Geistlichkeit, als der zweyte Stand, ist hierDie
Geistlichkeit.

zahlreich, aber eben nicht ansehnlich; denn die Pfrün-
den der Weltgeistlichen sind gering, die meisten Klö-
ster aber sehr arm. Selbst der Bischof hat nur gerin-
ge Einkünfte, und führt deswegen gar keinen Staat.
Er geht gar oft in seinem ehemaligen Ordenshabit,
wie ein gemeiner Mönch, spazieren; bisweilen sieht
man ihn in einer sehr schlechten Kutsche mit zwey übel-
gekleideten Lakayen fahren. Bey schönem Wetter sind
des Nachmittags alle Straßen voll Geistliche, und sie
gehen wirklich schaarenweise spazieren. Wären die
hiesigen Landeseinwohner nicht so gar sehr besorgt,
nach ihrem Tode bald aus dem Fegefeuer zu kommen,
so müßte gewiß die Hälfte der hiesigen Geistlichen ver-
hungern, oder wegziehen. Aber alle Altäre sind so
reichlich mit Seelmessen besetzt, daß jeder Priester
doch täglich 10 Sols *) für eine Messe verdienet.
Zur höchsten Noth kann einer hievon leben. Ein sehr
edler freymüthiger Ordensgeistlicher, ein wirklicher
Philosoph, der mich hier mit seiner Freundschaft be-
ehrte, hat mich versichert, daß unter der großen An-
zahl Geistlichen in Nizza nur etwa drey seyen, die
Litteratur oder Wissenschaft besitzen.

Die Kaufleute machen die dritte Classe der Ein-Die Kauf-
mannschaft.

wohner aus. Jch habe bereits oben angemerkt, daß
gar wenig Häuser hier alle große Handlung in ihren
Händen haben. Die übrigen sind Commissionairs
und Krämer. Doch scheinen verschiedene dieser letz-

tern,
*) Ohngefähr vier Groschen.
N

gethanen Reiſe.
ungeachtet iſt der Adel auch hier auf die Vorzuͤge ſei-
nes Standes ſtolz.

Die Geiſtlichkeit, als der zweyte Stand, iſt hierDie
Geiſtlichkeit.

zahlreich, aber eben nicht anſehnlich; denn die Pfruͤn-
den der Weltgeiſtlichen ſind gering, die meiſten Kloͤ-
ſter aber ſehr arm. Selbſt der Biſchof hat nur gerin-
ge Einkuͤnfte, und fuͤhrt deswegen gar keinen Staat.
Er geht gar oft in ſeinem ehemaligen Ordenshabit,
wie ein gemeiner Moͤnch, ſpazieren; bisweilen ſieht
man ihn in einer ſehr ſchlechten Kutſche mit zwey uͤbel-
gekleideten Lakayen fahren. Bey ſchoͤnem Wetter ſind
des Nachmittags alle Straßen voll Geiſtliche, und ſie
gehen wirklich ſchaarenweiſe ſpazieren. Waͤren die
hieſigen Landeseinwohner nicht ſo gar ſehr beſorgt,
nach ihrem Tode bald aus dem Fegefeuer zu kommen,
ſo muͤßte gewiß die Haͤlfte der hieſigen Geiſtlichen ver-
hungern, oder wegziehen. Aber alle Altaͤre ſind ſo
reichlich mit Seelmeſſen beſetzt, daß jeder Prieſter
doch taͤglich 10 Sols *) fuͤr eine Meſſe verdienet.
Zur hoͤchſten Noth kann einer hievon leben. Ein ſehr
edler freymuͤthiger Ordensgeiſtlicher, ein wirklicher
Philoſoph, der mich hier mit ſeiner Freundſchaft be-
ehrte, hat mich verſichert, daß unter der großen An-
zahl Geiſtlichen in Nizza nur etwa drey ſeyen, die
Litteratur oder Wiſſenſchaft beſitzen.

Die Kaufleute machen die dritte Claſſe der Ein-Die Kauf-
mannſchaft.

wohner aus. Jch habe bereits oben angemerkt, daß
gar wenig Haͤuſer hier alle große Handlung in ihren
Haͤnden haben. Die uͤbrigen ſind Commiſſionairs
und Kraͤmer. Doch ſcheinen verſchiedene dieſer letz-

tern,
*) Ohngefaͤhr vier Groſchen.
N
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[193/0213] gethanen Reiſe. ungeachtet iſt der Adel auch hier auf die Vorzuͤge ſei- nes Standes ſtolz. Die Geiſtlichkeit, als der zweyte Stand, iſt hier zahlreich, aber eben nicht anſehnlich; denn die Pfruͤn- den der Weltgeiſtlichen ſind gering, die meiſten Kloͤ- ſter aber ſehr arm. Selbſt der Biſchof hat nur gerin- ge Einkuͤnfte, und fuͤhrt deswegen gar keinen Staat. Er geht gar oft in ſeinem ehemaligen Ordenshabit, wie ein gemeiner Moͤnch, ſpazieren; bisweilen ſieht man ihn in einer ſehr ſchlechten Kutſche mit zwey uͤbel- gekleideten Lakayen fahren. Bey ſchoͤnem Wetter ſind des Nachmittags alle Straßen voll Geiſtliche, und ſie gehen wirklich ſchaarenweiſe ſpazieren. Waͤren die hieſigen Landeseinwohner nicht ſo gar ſehr beſorgt, nach ihrem Tode bald aus dem Fegefeuer zu kommen, ſo muͤßte gewiß die Haͤlfte der hieſigen Geiſtlichen ver- hungern, oder wegziehen. Aber alle Altaͤre ſind ſo reichlich mit Seelmeſſen beſetzt, daß jeder Prieſter doch taͤglich 10 Sols *) fuͤr eine Meſſe verdienet. Zur hoͤchſten Noth kann einer hievon leben. Ein ſehr edler freymuͤthiger Ordensgeiſtlicher, ein wirklicher Philoſoph, der mich hier mit ſeiner Freundſchaft be- ehrte, hat mich verſichert, daß unter der großen An- zahl Geiſtlichen in Nizza nur etwa drey ſeyen, die Litteratur oder Wiſſenſchaft beſitzen. Die Geiſtlichkeit. Die Kaufleute machen die dritte Claſſe der Ein- wohner aus. Jch habe bereits oben angemerkt, daß gar wenig Haͤuſer hier alle große Handlung in ihren Haͤnden haben. Die uͤbrigen ſind Commiſſionairs und Kraͤmer. Doch ſcheinen verſchiedene dieſer letz- tern, Die Kauf- mannſchaft. *) Ohngefaͤhr vier Groſchen. N

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/213>, abgerufen am 28.04.2024.