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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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Tagebuch von einer nach Nizza
Zeitvertreib, und beweiset, wie wenig hier die Men-
schen sich zu Hause zu beschäfftigen, oder zu ergötzen
wissen. Jm Winter macht das Spazierengehen ei-
nen Theil des Zeitvertreibes aus; und dabey sieht
man gemeiniglich die Damen in dem besten Putz.

Von Jndustrie oder Bestrebung Neues zu erfinden,
oder das Gebräuchliche zu verbessern, habe ich hier
keine Spur angetroffen. Die gemeinsten alltäglichen
Künste haben hier nur einen geringen Grad der
Vollkommenheit erreicht. Die Mühlen, das Ge-
traide zu mahlen, sind vermuthlich hier noch in dem
Grad der Unvollkommenheit, in dem sie zuerst nach
den Abendländern gekommen sind. Das durch den
langsam herumlaufenden Stein zermalmte Getraide,
das alsdenn aus Mehl, Gries und Kleyen besteht,
wird in einen Kasten ausgeleert, und so dem Eigen-
thümer zugestellt, der nun nach Belieben es so brau-
chen, oder durch Siebe das Mehl herausnehmen
kann.

Auch hier siehet man schon einige Spuren von
dem in Genua und vielen andern Städten in Jtalien
eingeführten Cicisbeat. Es giebt verheirathete
Frauen, die man allezeit an den Armen der von ihnen
gewählten Aufwärter, und nie mit ihren eigenen Män-
nern gehen sieht, mit denen sie übrigens in guter Ei-
nigkeit leben.

Daß die hiesigen Einwohner durchgehends wenig
auf Reinlichkeit und Gemächlichkeit in ihren Woh-
nungen sehen, habe ich bereits erinnert. Es mögen
auch hier einige wenige Ausnahmen statt haben: aber
in Ansehung des weit größten Theils ist es gewiß wahr.
Dieser scheinet für die Annehmlichkeit, gemächlich zu

woh-

Tagebuch von einer nach Nizza
Zeitvertreib, und beweiſet, wie wenig hier die Men-
ſchen ſich zu Hauſe zu beſchaͤfftigen, oder zu ergoͤtzen
wiſſen. Jm Winter macht das Spazierengehen ei-
nen Theil des Zeitvertreibes aus; und dabey ſieht
man gemeiniglich die Damen in dem beſten Putz.

Von Jnduſtrie oder Beſtrebung Neues zu erfinden,
oder das Gebraͤuchliche zu verbeſſern, habe ich hier
keine Spur angetroffen. Die gemeinſten alltaͤglichen
Kuͤnſte haben hier nur einen geringen Grad der
Vollkommenheit erreicht. Die Muͤhlen, das Ge-
traide zu mahlen, ſind vermuthlich hier noch in dem
Grad der Unvollkommenheit, in dem ſie zuerſt nach
den Abendlaͤndern gekommen ſind. Das durch den
langſam herumlaufenden Stein zermalmte Getraide,
das alsdenn aus Mehl, Gries und Kleyen beſteht,
wird in einen Kaſten ausgeleert, und ſo dem Eigen-
thuͤmer zugeſtellt, der nun nach Belieben es ſo brau-
chen, oder durch Siebe das Mehl herausnehmen
kann.

Auch hier ſiehet man ſchon einige Spuren von
dem in Genua und vielen andern Staͤdten in Jtalien
eingefuͤhrten Cicisbeat. Es giebt verheirathete
Frauen, die man allezeit an den Armen der von ihnen
gewaͤhlten Aufwaͤrter, und nie mit ihren eigenen Maͤn-
nern gehen ſieht, mit denen ſie uͤbrigens in guter Ei-
nigkeit leben.

Daß die hieſigen Einwohner durchgehends wenig
auf Reinlichkeit und Gemaͤchlichkeit in ihren Woh-
nungen ſehen, habe ich bereits erinnert. Es moͤgen
auch hier einige wenige Ausnahmen ſtatt haben: aber
in Anſehung des weit groͤßten Theils iſt es gewiß wahr.
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[198/0218] Tagebuch von einer nach Nizza Zeitvertreib, und beweiſet, wie wenig hier die Men- ſchen ſich zu Hauſe zu beſchaͤfftigen, oder zu ergoͤtzen wiſſen. Jm Winter macht das Spazierengehen ei- nen Theil des Zeitvertreibes aus; und dabey ſieht man gemeiniglich die Damen in dem beſten Putz. Von Jnduſtrie oder Beſtrebung Neues zu erfinden, oder das Gebraͤuchliche zu verbeſſern, habe ich hier keine Spur angetroffen. Die gemeinſten alltaͤglichen Kuͤnſte haben hier nur einen geringen Grad der Vollkommenheit erreicht. Die Muͤhlen, das Ge- traide zu mahlen, ſind vermuthlich hier noch in dem Grad der Unvollkommenheit, in dem ſie zuerſt nach den Abendlaͤndern gekommen ſind. Das durch den langſam herumlaufenden Stein zermalmte Getraide, das alsdenn aus Mehl, Gries und Kleyen beſteht, wird in einen Kaſten ausgeleert, und ſo dem Eigen- thuͤmer zugeſtellt, der nun nach Belieben es ſo brau- chen, oder durch Siebe das Mehl herausnehmen kann. Auch hier ſiehet man ſchon einige Spuren von dem in Genua und vielen andern Staͤdten in Jtalien eingefuͤhrten Cicisbeat. Es giebt verheirathete Frauen, die man allezeit an den Armen der von ihnen gewaͤhlten Aufwaͤrter, und nie mit ihren eigenen Maͤn- nern gehen ſieht, mit denen ſie uͤbrigens in guter Ei- nigkeit leben. Daß die hieſigen Einwohner durchgehends wenig auf Reinlichkeit und Gemaͤchlichkeit in ihren Woh- nungen ſehen, habe ich bereits erinnert. Es moͤgen auch hier einige wenige Ausnahmen ſtatt haben: aber in Anſehung des weit groͤßten Theils iſt es gewiß wahr. Dieſer ſcheinet fuͤr die Annehmlichkeit, gemaͤchlich zu woh-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/218>, abgerufen am 28.04.2024.