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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Red
Zwek gemäß erfindet, anordnet und ausdrükt. Die
Poesie würde sich endlich dadurch von den andern
Arten auszeichnen, daß sie Gedanken und Ausdruk
in der Absicht ihnen den höchsten Grad der sinnlichen
Vollkommenheit und Lebhaftigkeit zu geben, bear-
beitet.

Sind dadurch die Gränzen jeder Art nicht so ge-
nau bezeichnet, daß sie nicht hier und da ungewiß
und unkenntlich werden; so liegt der Grund da-
von in der Natur der Sache selbst. Man muß sich
mit confusen und zum Theil unbestimmten Begriffen
behelfen, oder den Vorsaz, die viererley Arten der
Reden von einander zu unterscheiden, völlig fahren
lassen.

Betrachtet man nun die Kunst der Rede über-
haupt, und in allen ihren Arten zugleich, so begreift
ihre Theorie die Wissenschaft des Denkens und
des Sprechens, beyde in ihrem ganzen Umfange.
Denn wie Horaz sagt, der Grund alles Sprechens
ist das Denken: Scribendi sapere sons est. Wollte
man also die Rhetorik, als eine Wissenschaft des
Sprechens überhaupt ansehen, so müßte sie auch
das klare, richtige, deutliche, nachdrükliche, schöne,
ausführliche Denken lehren, und hernach gar alles
was zur Kunst des Ausdruks gehört, von den er-
sten Elementen der Grammatik, bis auf das, was
die Sprache vom Enthusiasmus der Poesie und des
Gesanges annihmt, ausführen.

Wieviel nun von dieser sich erstaunlich weit erstre-
kenden Wissenschaft aller Wissenschaften, für den
besondern Gebrauch des Redners herauszunehmen
sey, ist von Niemand genau bestimmt worden.

Jeder der über die Kunst schrieb, gab ihr nach
Gutdünken mehr oder weniger Ausdähnung. Es
scheinet, daß die ältesten Rhetoren in Athen bey ih-
rem Unterricht fast ganz auf die Sachen, oder auf
das Denken gesehen, und nicht nur die ganze Dia-
lektik, sondern auch noch die Staatswissenschaft,
als Theile der Rhetorik angesehen haben. Hingegen
kam das, was den Ausdruk betrift, in den ersten
Zeiten weit weniger in Betrachtung. Jn den ganz
späthern Zeiten hingegen findet man die griechischen
Rhetoren fast allein mit dem Ausdruk beschäftiget,
über den sie sich bis auf die ersten Grundregeln der
Grammatik herablassen.

Wollte man nun der Rhetorik den Umfang ge-
ben, der sowol die früheren, als die spätheren Grän-
zen an den beyden äußersten Seiten in sich begriffe;
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Red
so würde sie, wie gesagt, fast zu einer unermeßli-
chen Wissenschaft werden. Um ihr nähere und ihr
eigene Schranken zu sezen, muß man über die Res,
oder das Denken, das, was der Beredsamkeit nicht
eigen ist, voraussezen, und annehmen, der Redner
habe Kenntnis der Sachen, worüber er zu sprechen
hat, und ihm blos gute Grundsäze geben, wonach
er das, was er bey jeder Gelegenheit anzubringen
hat, aussuchen und vorbringen soll. Und so muß
man, in Absicht auf das Formale seiner Kenntnisse
voraussezen, daß er die Grundregeln der Logik, es
sey durch bloße Uebung, oder durch ein förmliches
Studiren, besize; daß er wisse, was das sey, eine
Sache sich deutlich oder undeutlich vorstellen; rich-
tig oder unrichtig urtheilen, wahre oder betrügerische
Schlüsse zu machen u. d. gl. Dieses aber vorausge-
sezt muß ihm in der Rhetorik Anweisung gegeben
werden, wie in besondern Fällen diese Kenntnisse
aus der Vernunftlehre anzuwenden seyen.

Da ferner die gemeine Rede noch nicht als eine
der schönen Künste betrachtet wird, so muß auch
das, was hiezu, sowol in Ansehung der Sachen,
als des Ausdruks gehöret, von der Rhetorik ausge-
schlossen werden. Diese muß man lediglich der
Grammatik und dem allgemeinen Unterricht im Be-
greifen und Denken überlassen.

Die Wolredenheit aber (*) wird schon als ein
Theil der Kunst betrachtet. Da sie aber vornehm-
lich nur noch auf einzele Redesäze und Perioden
geht, und sich nicht auf förmliche Reden einläßt, so
sollten die Lehren über Wolredenheit einen besondern
Theil der Rhetorik ausmachen. Dieser würde sich
darauf einschränken, daß er lehrte, wie einzele Be-
griffe und Gedanken ästhetisch auszubilden, und dem
Charakter ihrer Ausbildung gemäß auszudrüken
seyen. Man würde da z. B. zeigen, was ein star-
ker, ein naiver, ein wiziger, ein angenehmer, rüh-
render, beißender, großer, erhabener Gedanke sey;
und wie der Ausdruk durch Figuren, Tropen und
andern Wendungen, auch durch Ton und Klang
dem Charakter des Gedankens gemäß zu treffen sey.
Alles dieses würde also einen besondern Theil der
Theorie ausmachen, in welchem es noch gar nicht
um die Bildung des eigentlichen Redners zu thun
ist. Dafür wär also ein zweyter Theil der Rhetorik
nothwendig, in welchem aber der beschriebene erste
Theil, so wie in diesem die Grammatik, vorausge-
sezt werden müßte.

Dieser
(*) S.
Beredsam-
keit.

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Red
Zwek gemaͤß erfindet, anordnet und ausdruͤkt. Die
Poeſie wuͤrde ſich endlich dadurch von den andern
Arten auszeichnen, daß ſie Gedanken und Ausdruk
in der Abſicht ihnen den hoͤchſten Grad der ſinnlichen
Vollkommenheit und Lebhaftigkeit zu geben, bear-
beitet.

Sind dadurch die Graͤnzen jeder Art nicht ſo ge-
nau bezeichnet, daß ſie nicht hier und da ungewiß
und unkenntlich werden; ſo liegt der Grund da-
von in der Natur der Sache ſelbſt. Man muß ſich
mit confuſen und zum Theil unbeſtimmten Begriffen
behelfen, oder den Vorſaz, die viererley Arten der
Reden von einander zu unterſcheiden, voͤllig fahren
laſſen.

Betrachtet man nun die Kunſt der Rede uͤber-
haupt, und in allen ihren Arten zugleich, ſo begreift
ihre Theorie die Wiſſenſchaft des Denkens und
des Sprechens, beyde in ihrem ganzen Umfange.
Denn wie Horaz ſagt, der Grund alles Sprechens
iſt das Denken: Scribendi ſapere ſons eſt. Wollte
man alſo die Rhetorik, als eine Wiſſenſchaft des
Sprechens uͤberhaupt anſehen, ſo muͤßte ſie auch
das klare, richtige, deutliche, nachdruͤkliche, ſchoͤne,
ausfuͤhrliche Denken lehren, und hernach gar alles
was zur Kunſt des Ausdruks gehoͤrt, von den er-
ſten Elementen der Grammatik, bis auf das, was
die Sprache vom Enthuſiasmus der Poeſie und des
Geſanges annihmt, ausfuͤhren.

Wieviel nun von dieſer ſich erſtaunlich weit erſtre-
kenden Wiſſenſchaft aller Wiſſenſchaften, fuͤr den
beſondern Gebrauch des Redners herauszunehmen
ſey, iſt von Niemand genau beſtimmt worden.

Jeder der uͤber die Kunſt ſchrieb, gab ihr nach
Gutduͤnken mehr oder weniger Ausdaͤhnung. Es
ſcheinet, daß die aͤlteſten Rhetoren in Athen bey ih-
rem Unterricht faſt ganz auf die Sachen, oder auf
das Denken geſehen, und nicht nur die ganze Dia-
lektik, ſondern auch noch die Staatswiſſenſchaft,
als Theile der Rhetorik angeſehen haben. Hingegen
kam das, was den Ausdruk betrift, in den erſten
Zeiten weit weniger in Betrachtung. Jn den ganz
ſpaͤthern Zeiten hingegen findet man die griechiſchen
Rhetoren faſt allein mit dem Ausdruk beſchaͤftiget,
uͤber den ſie ſich bis auf die erſten Grundregeln der
Grammatik herablaſſen.

Wollte man nun der Rhetorik den Umfang ge-
ben, der ſowol die fruͤheren, als die ſpaͤtheren Graͤn-
zen an den beyden aͤußerſten Seiten in ſich begriffe;
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Red
ſo wuͤrde ſie, wie geſagt, faſt zu einer unermeßli-
chen Wiſſenſchaft werden. Um ihr naͤhere und ihr
eigene Schranken zu ſezen, muß man uͤber die Res,
oder das Denken, das, was der Beredſamkeit nicht
eigen iſt, vorausſezen, und annehmen, der Redner
habe Kenntnis der Sachen, woruͤber er zu ſprechen
hat, und ihm blos gute Grundſaͤze geben, wonach
er das, was er bey jeder Gelegenheit anzubringen
hat, ausſuchen und vorbringen ſoll. Und ſo muß
man, in Abſicht auf das Formale ſeiner Kenntniſſe
vorausſezen, daß er die Grundregeln der Logik, es
ſey durch bloße Uebung, oder durch ein foͤrmliches
Studiren, beſize; daß er wiſſe, was das ſey, eine
Sache ſich deutlich oder undeutlich vorſtellen; rich-
tig oder unrichtig urtheilen, wahre oder betruͤgeriſche
Schluͤſſe zu machen u. d. gl. Dieſes aber vorausge-
ſezt muß ihm in der Rhetorik Anweiſung gegeben
werden, wie in beſondern Faͤllen dieſe Kenntniſſe
aus der Vernunftlehre anzuwenden ſeyen.

Da ferner die gemeine Rede noch nicht als eine
der ſchoͤnen Kuͤnſte betrachtet wird, ſo muß auch
das, was hiezu, ſowol in Anſehung der Sachen,
als des Ausdruks gehoͤret, von der Rhetorik ausge-
ſchloſſen werden. Dieſe muß man lediglich der
Grammatik und dem allgemeinen Unterricht im Be-
greifen und Denken uͤberlaſſen.

Die Wolredenheit aber (*) wird ſchon als ein
Theil der Kunſt betrachtet. Da ſie aber vornehm-
lich nur noch auf einzele Redeſaͤze und Perioden
geht, und ſich nicht auf foͤrmliche Reden einlaͤßt, ſo
ſollten die Lehren uͤber Wolredenheit einen beſondern
Theil der Rhetorik ausmachen. Dieſer wuͤrde ſich
darauf einſchraͤnken, daß er lehrte, wie einzele Be-
griffe und Gedanken aͤſthetiſch auszubilden, und dem
Charakter ihrer Ausbildung gemaͤß auszudruͤken
ſeyen. Man wuͤrde da z. B. zeigen, was ein ſtar-
ker, ein naiver, ein wiziger, ein angenehmer, ruͤh-
render, beißender, großer, erhabener Gedanke ſey;
und wie der Ausdruk durch Figuren, Tropen und
andern Wendungen, auch durch Ton und Klang
dem Charakter des Gedankens gemaͤß zu treffen ſey.
Alles dieſes wuͤrde alſo einen beſondern Theil der
Theorie ausmachen, in welchem es noch gar nicht
um die Bildung des eigentlichen Redners zu thun
iſt. Dafuͤr waͤr alſo ein zweyter Theil der Rhetorik
nothwendig, in welchem aber der beſchriebene erſte
Theil, ſo wie in dieſem die Grammatik, vorausge-
ſezt werden muͤßte.

Dieſer
(*) S.
Beredſam-
keit.
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[960[942]/0389] Red Red Zwek gemaͤß erfindet, anordnet und ausdruͤkt. Die Poeſie wuͤrde ſich endlich dadurch von den andern Arten auszeichnen, daß ſie Gedanken und Ausdruk in der Abſicht ihnen den hoͤchſten Grad der ſinnlichen Vollkommenheit und Lebhaftigkeit zu geben, bear- beitet. Sind dadurch die Graͤnzen jeder Art nicht ſo ge- nau bezeichnet, daß ſie nicht hier und da ungewiß und unkenntlich werden; ſo liegt der Grund da- von in der Natur der Sache ſelbſt. Man muß ſich mit confuſen und zum Theil unbeſtimmten Begriffen behelfen, oder den Vorſaz, die viererley Arten der Reden von einander zu unterſcheiden, voͤllig fahren laſſen. Betrachtet man nun die Kunſt der Rede uͤber- haupt, und in allen ihren Arten zugleich, ſo begreift ihre Theorie die Wiſſenſchaft des Denkens und des Sprechens, beyde in ihrem ganzen Umfange. Denn wie Horaz ſagt, der Grund alles Sprechens iſt das Denken: Scribendi ſapere ſons eſt. Wollte man alſo die Rhetorik, als eine Wiſſenſchaft des Sprechens uͤberhaupt anſehen, ſo muͤßte ſie auch das klare, richtige, deutliche, nachdruͤkliche, ſchoͤne, ausfuͤhrliche Denken lehren, und hernach gar alles was zur Kunſt des Ausdruks gehoͤrt, von den er- ſten Elementen der Grammatik, bis auf das, was die Sprache vom Enthuſiasmus der Poeſie und des Geſanges annihmt, ausfuͤhren. Wieviel nun von dieſer ſich erſtaunlich weit erſtre- kenden Wiſſenſchaft aller Wiſſenſchaften, fuͤr den beſondern Gebrauch des Redners herauszunehmen ſey, iſt von Niemand genau beſtimmt worden. Jeder der uͤber die Kunſt ſchrieb, gab ihr nach Gutduͤnken mehr oder weniger Ausdaͤhnung. Es ſcheinet, daß die aͤlteſten Rhetoren in Athen bey ih- rem Unterricht faſt ganz auf die Sachen, oder auf das Denken geſehen, und nicht nur die ganze Dia- lektik, ſondern auch noch die Staatswiſſenſchaft, als Theile der Rhetorik angeſehen haben. Hingegen kam das, was den Ausdruk betrift, in den erſten Zeiten weit weniger in Betrachtung. Jn den ganz ſpaͤthern Zeiten hingegen findet man die griechiſchen Rhetoren faſt allein mit dem Ausdruk beſchaͤftiget, uͤber den ſie ſich bis auf die erſten Grundregeln der Grammatik herablaſſen. Wollte man nun der Rhetorik den Umfang ge- ben, der ſowol die fruͤheren, als die ſpaͤtheren Graͤn- zen an den beyden aͤußerſten Seiten in ſich begriffe; ſo wuͤrde ſie, wie geſagt, faſt zu einer unermeßli- chen Wiſſenſchaft werden. Um ihr naͤhere und ihr eigene Schranken zu ſezen, muß man uͤber die Res, oder das Denken, das, was der Beredſamkeit nicht eigen iſt, vorausſezen, und annehmen, der Redner habe Kenntnis der Sachen, woruͤber er zu ſprechen hat, und ihm blos gute Grundſaͤze geben, wonach er das, was er bey jeder Gelegenheit anzubringen hat, ausſuchen und vorbringen ſoll. Und ſo muß man, in Abſicht auf das Formale ſeiner Kenntniſſe vorausſezen, daß er die Grundregeln der Logik, es ſey durch bloße Uebung, oder durch ein foͤrmliches Studiren, beſize; daß er wiſſe, was das ſey, eine Sache ſich deutlich oder undeutlich vorſtellen; rich- tig oder unrichtig urtheilen, wahre oder betruͤgeriſche Schluͤſſe zu machen u. d. gl. Dieſes aber vorausge- ſezt muß ihm in der Rhetorik Anweiſung gegeben werden, wie in beſondern Faͤllen dieſe Kenntniſſe aus der Vernunftlehre anzuwenden ſeyen. Da ferner die gemeine Rede noch nicht als eine der ſchoͤnen Kuͤnſte betrachtet wird, ſo muß auch das, was hiezu, ſowol in Anſehung der Sachen, als des Ausdruks gehoͤret, von der Rhetorik ausge- ſchloſſen werden. Dieſe muß man lediglich der Grammatik und dem allgemeinen Unterricht im Be- greifen und Denken uͤberlaſſen. Die Wolredenheit aber (*) wird ſchon als ein Theil der Kunſt betrachtet. Da ſie aber vornehm- lich nur noch auf einzele Redeſaͤze und Perioden geht, und ſich nicht auf foͤrmliche Reden einlaͤßt, ſo ſollten die Lehren uͤber Wolredenheit einen beſondern Theil der Rhetorik ausmachen. Dieſer wuͤrde ſich darauf einſchraͤnken, daß er lehrte, wie einzele Be- griffe und Gedanken aͤſthetiſch auszubilden, und dem Charakter ihrer Ausbildung gemaͤß auszudruͤken ſeyen. Man wuͤrde da z. B. zeigen, was ein ſtar- ker, ein naiver, ein wiziger, ein angenehmer, ruͤh- render, beißender, großer, erhabener Gedanke ſey; und wie der Ausdruk durch Figuren, Tropen und andern Wendungen, auch durch Ton und Klang dem Charakter des Gedankens gemaͤß zu treffen ſey. Alles dieſes wuͤrde alſo einen beſondern Theil der Theorie ausmachen, in welchem es noch gar nicht um die Bildung des eigentlichen Redners zu thun iſt. Dafuͤr waͤr alſo ein zweyter Theil der Rhetorik nothwendig, in welchem aber der beſchriebene erſte Theil, ſo wie in dieſem die Grammatik, vorausge- ſezt werden muͤßte. Dieſer (*) S. Beredſam- keit.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 960[942]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/389>, abgerufen am 27.04.2024.