Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungskraft etc.
Receptivität eins und dasselbige Vermögen. Die Seele
nimmt etwas an, indem sie fühlet, und fühlet, indem
sie sich modificiren läßt, und etwas annimmt. Jndes-
sen mag man, wenn man will, die Modifikabilität
vom Gefühl unterscheiden, und das letztere, daß näm-
lich die Seele ihre Modifikationen fühlet, als ein Unter-
scheidungsmerkmal einer geistlichen Empfänglichkeit
ansehen. So mag es denn auch dahin gestellet seyn, ob
jedwede Aufnahme einer Modifikation mit Fühlen ver-
bunden sey. Aber dieß wird hier nicht hindern die Em-
pfänglichkeit
und das Gefühl zusammen unter dem
letztern Namen zu begreifen, und also das Gefühl in
diesem Verstande als Eine von ihren Grundfähigkei-
ten
anzunehmen.

Die vorstellende und denkende Kraft war beides eine
Folge einer innern thätigen Kraft, mit der die Seele
etwas hervorbringet, wenn sie gefühlet hat. Die Wir-
kungen dieser Vermögen sind in ihr selbst, oder doch in
demjenigen Theil des Gehirns, den wir zu unserm Jch
rechnen. Die erste, die Vorstellungskraft beschäftiget
sich mit den Spuren der empfundenen Modifikationen;
die Denkkraft wirket auf die Vorstellungen, und bringet
etwas aus sich hervor. Aber Denken sowohl als Vor-
stellen sind beides Wirkungen einer selbstthätigen Kraft.
Die Seele also besitzet Gefühl und thätige Kraft,
das ist eine Kraft, thätig etwas hervorzubringen, wenn
sie modificiret worden ist. Jene ist ihre Receptivität,
dieses ihre Aktivität.

Sie wirket in sich selbst, oder außer sich in den
Körper,
bey welcher Eintheilung der gemeine Unter-
schied zwischen Seele und Körper zum Grunde geleget
wird. Wenn es eine Bewegung ist, was durch ihre
Kraft bewirket wird, so ist dieß eine herausgehende
Thätigkeit
(actio transiens), welche der in ihr blei-
benden
(immanens) entgegen gesetzet wird. Die Thä-

tigkeiten

der Vorſtellungskraft ⁊c.
Receptivitaͤt eins und daſſelbige Vermoͤgen. Die Seele
nimmt etwas an, indem ſie fuͤhlet, und fuͤhlet, indem
ſie ſich modificiren laͤßt, und etwas annimmt. Jndeſ-
ſen mag man, wenn man will, die Modifikabilitaͤt
vom Gefuͤhl unterſcheiden, und das letztere, daß naͤm-
lich die Seele ihre Modifikationen fuͤhlet, als ein Unter-
ſcheidungsmerkmal einer geiſtlichen Empfaͤnglichkeit
anſehen. So mag es denn auch dahin geſtellet ſeyn, ob
jedwede Aufnahme einer Modifikation mit Fuͤhlen ver-
bunden ſey. Aber dieß wird hier nicht hindern die Em-
pfaͤnglichkeit
und das Gefuͤhl zuſammen unter dem
letztern Namen zu begreifen, und alſo das Gefuͤhl in
dieſem Verſtande als Eine von ihren Grundfaͤhigkei-
ten
anzunehmen.

Die vorſtellende und denkende Kraft war beides eine
Folge einer innern thaͤtigen Kraft, mit der die Seele
etwas hervorbringet, wenn ſie gefuͤhlet hat. Die Wir-
kungen dieſer Vermoͤgen ſind in ihr ſelbſt, oder doch in
demjenigen Theil des Gehirns, den wir zu unſerm Jch
rechnen. Die erſte, die Vorſtellungskraft beſchaͤftiget
ſich mit den Spuren der empfundenen Modifikationen;
die Denkkraft wirket auf die Vorſtellungen, und bringet
etwas aus ſich hervor. Aber Denken ſowohl als Vor-
ſtellen ſind beides Wirkungen einer ſelbſtthaͤtigen Kraft.
Die Seele alſo beſitzet Gefuͤhl und thaͤtige Kraft,
das iſt eine Kraft, thaͤtig etwas hervorzubringen, wenn
ſie modificiret worden iſt. Jene iſt ihre Receptivitaͤt,
dieſes ihre Aktivitaͤt.

Sie wirket in ſich ſelbſt, oder außer ſich in den
Koͤrper,
bey welcher Eintheilung der gemeine Unter-
ſchied zwiſchen Seele und Koͤrper zum Grunde geleget
wird. Wenn es eine Bewegung iſt, was durch ihre
Kraft bewirket wird, ſo iſt dieß eine herausgehende
Thaͤtigkeit
(actio tranſiens), welche der in ihr blei-
benden
(immanens) entgegen geſetzet wird. Die Thaͤ-

tigkeiten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0681" n="621"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungskraft &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
Receptivita&#x0364;t eins und da&#x017F;&#x017F;elbige Vermo&#x0364;gen. Die Seele<lb/>
nimmt etwas an, indem &#x017F;ie fu&#x0364;hlet, und fu&#x0364;hlet, indem<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich modificiren la&#x0364;ßt, und etwas annimmt. Jnde&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en mag man, wenn man will, die <hi rendition="#fr">Modifikabilita&#x0364;t</hi><lb/>
vom <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl</hi> unter&#x017F;cheiden, und das letztere, daß na&#x0364;m-<lb/>
lich die Seele ihre Modifikationen fu&#x0364;hlet, als ein Unter-<lb/>
&#x017F;cheidungsmerkmal einer <hi rendition="#fr">gei&#x017F;tlichen Empfa&#x0364;nglichkeit</hi><lb/>
an&#x017F;ehen. So mag es denn auch dahin ge&#x017F;tellet &#x017F;eyn, ob<lb/>
jedwede Aufnahme einer Modifikation mit Fu&#x0364;hlen ver-<lb/>
bunden &#x017F;ey. Aber dieß wird hier nicht hindern die <hi rendition="#fr">Em-<lb/>
pfa&#x0364;nglichkeit</hi> und das <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl</hi> zu&#x017F;ammen unter dem<lb/>
letztern Namen zu begreifen, und al&#x017F;o das <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl</hi> in<lb/>
die&#x017F;em Ver&#x017F;tande als Eine von ihren <hi rendition="#fr">Grundfa&#x0364;higkei-<lb/>
ten</hi> anzunehmen.</p><lb/>
            <p>Die vor&#x017F;tellende und denkende Kraft war beides eine<lb/>
Folge einer innern <hi rendition="#fr">tha&#x0364;tigen Kraft,</hi> mit der die Seele<lb/>
etwas hervorbringet, wenn &#x017F;ie gefu&#x0364;hlet hat. Die Wir-<lb/>
kungen die&#x017F;er Vermo&#x0364;gen &#x017F;ind in ihr &#x017F;elb&#x017F;t, oder doch in<lb/>
demjenigen Theil des Gehirns, den wir zu un&#x017F;erm Jch<lb/>
rechnen. Die er&#x017F;te, die Vor&#x017F;tellungskraft be&#x017F;cha&#x0364;ftiget<lb/>
&#x017F;ich mit den Spuren der empfundenen Modifikationen;<lb/>
die Denkkraft wirket auf die Vor&#x017F;tellungen, und bringet<lb/>
etwas aus &#x017F;ich hervor. Aber Denken &#x017F;owohl als Vor-<lb/>
&#x017F;tellen &#x017F;ind beides Wirkungen einer &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tigen Kraft.<lb/>
Die Seele al&#x017F;o be&#x017F;itzet <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl</hi> und <hi rendition="#fr">tha&#x0364;tige Kraft,</hi><lb/>
das i&#x017F;t eine Kraft, tha&#x0364;tig etwas hervorzubringen, wenn<lb/>
&#x017F;ie modificiret worden i&#x017F;t. Jene i&#x017F;t ihre <hi rendition="#fr">Receptivita&#x0364;t,</hi><lb/>
die&#x017F;es ihre <hi rendition="#fr">Aktivita&#x0364;t.</hi></p><lb/>
            <p>Sie wirket in <hi rendition="#fr">&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t,</hi> oder <hi rendition="#fr">außer &#x017F;ich in den<lb/>
Ko&#x0364;rper,</hi> bey welcher Eintheilung der gemeine Unter-<lb/>
&#x017F;chied zwi&#x017F;chen Seele und Ko&#x0364;rper zum Grunde geleget<lb/>
wird. Wenn es eine Bewegung i&#x017F;t, was durch ihre<lb/>
Kraft bewirket wird, &#x017F;o i&#x017F;t dieß eine <hi rendition="#fr">herausgehende<lb/>
Tha&#x0364;tigkeit</hi> (<hi rendition="#aq">actio tran&#x017F;iens</hi>), welche der in <hi rendition="#fr">ihr blei-<lb/>
benden</hi> (<hi rendition="#aq">immanens</hi>) entgegen ge&#x017F;etzet wird. Die Tha&#x0364;-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tigkeiten</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[621/0681] der Vorſtellungskraft ⁊c. Receptivitaͤt eins und daſſelbige Vermoͤgen. Die Seele nimmt etwas an, indem ſie fuͤhlet, und fuͤhlet, indem ſie ſich modificiren laͤßt, und etwas annimmt. Jndeſ- ſen mag man, wenn man will, die Modifikabilitaͤt vom Gefuͤhl unterſcheiden, und das letztere, daß naͤm- lich die Seele ihre Modifikationen fuͤhlet, als ein Unter- ſcheidungsmerkmal einer geiſtlichen Empfaͤnglichkeit anſehen. So mag es denn auch dahin geſtellet ſeyn, ob jedwede Aufnahme einer Modifikation mit Fuͤhlen ver- bunden ſey. Aber dieß wird hier nicht hindern die Em- pfaͤnglichkeit und das Gefuͤhl zuſammen unter dem letztern Namen zu begreifen, und alſo das Gefuͤhl in dieſem Verſtande als Eine von ihren Grundfaͤhigkei- ten anzunehmen. Die vorſtellende und denkende Kraft war beides eine Folge einer innern thaͤtigen Kraft, mit der die Seele etwas hervorbringet, wenn ſie gefuͤhlet hat. Die Wir- kungen dieſer Vermoͤgen ſind in ihr ſelbſt, oder doch in demjenigen Theil des Gehirns, den wir zu unſerm Jch rechnen. Die erſte, die Vorſtellungskraft beſchaͤftiget ſich mit den Spuren der empfundenen Modifikationen; die Denkkraft wirket auf die Vorſtellungen, und bringet etwas aus ſich hervor. Aber Denken ſowohl als Vor- ſtellen ſind beides Wirkungen einer ſelbſtthaͤtigen Kraft. Die Seele alſo beſitzet Gefuͤhl und thaͤtige Kraft, das iſt eine Kraft, thaͤtig etwas hervorzubringen, wenn ſie modificiret worden iſt. Jene iſt ihre Receptivitaͤt, dieſes ihre Aktivitaͤt. Sie wirket in ſich ſelbſt, oder außer ſich in den Koͤrper, bey welcher Eintheilung der gemeine Unter- ſchied zwiſchen Seele und Koͤrper zum Grunde geleget wird. Wenn es eine Bewegung iſt, was durch ihre Kraft bewirket wird, ſo iſt dieß eine herausgehende Thaͤtigkeit (actio tranſiens), welche der in ihr blei- benden (immanens) entgegen geſetzet wird. Die Thaͤ- tigkeiten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/681
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/681>, abgerufen am 28.05.2024.