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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
diesem Stücke einen Vorzug, oder kann ihn durch Ue-
bung erlangen. Man wird es z. B. gewohnt, im
Dunkeln seinen Hut aus einer Menge anderer heraus-
zufühlen.

Dagegen ist das Vergnügen, was man in der Ge-
sellschaft mit einem Freunde genossen hat, oft so sehr ei-
nerley mit dem Vergnügen, das die Gesellschaft des an-
dern verursachte, daß, wenn man sich an beides wieder
erinnert, so scheint es, man könne die Eine solcher repro-
ducirten Empfindungen von der andern nicht mehr unter-
scheiden, obgleich die verknüpften Einbildungen des Ge-
sichts ihre individuelle Deutlichkeit behalten haben.
Schon in den Empfindungen ist dieser Unterschied der
Klarheit merkbar. Tausend äußere Empfindungen sind
auf einerley Art angenehm oder unangenehm. Aber
wenn sie es nicht in der Empfindung sind, so sind sie es
doch in der Reproduktion, wo man die Eine von der an-
dern nicht anders, als vermittelst der associirten Jdeen
von den äußern Gegenständen unterscheidet.

Dennoch haben auch die Wiedervorstellungen der in-
nern
Gemüthsbewegungen ihr Unterscheidendes. Es
giebt z. B. mannigfaltige Arten und Stufen der Lust
und des Misfallens, mehrere, als wir mit eigenen Na-
men beleget haben, die ihr Charakteristisches in der Wie-
dererinnerung nicht verlieren. Bey dem Anschauen ei-
ner Person empfinden wir Freundschaft; bey der andern
Liebe. Ein Paar Empfindnisse, die sich auch in der
Reproduktion eben so stark von einander auszeichnen,
als das Gesichtsbild von dem Freunde, und von der Ge-
liebten. Noch mehr. Es ist auch einiger individueller
Unterschied bey einerley Art von Gefühlen vorhanden, der
in der Reproduktion nicht allemal zu schwach ist, um
beobachtet werden zu können. Man frage die empfind-
samen Leute, wenn man selbst es nicht genug ist, um
aus seiner eigenen Erfahrung eine Menge einzelner Fälle

bey

I. Verſuch. Ueber die Natur
dieſem Stuͤcke einen Vorzug, oder kann ihn durch Ue-
bung erlangen. Man wird es z. B. gewohnt, im
Dunkeln ſeinen Hut aus einer Menge anderer heraus-
zufuͤhlen.

Dagegen iſt das Vergnuͤgen, was man in der Ge-
ſellſchaft mit einem Freunde genoſſen hat, oft ſo ſehr ei-
nerley mit dem Vergnuͤgen, das die Geſellſchaft des an-
dern verurſachte, daß, wenn man ſich an beides wieder
erinnert, ſo ſcheint es, man koͤnne die Eine ſolcher repro-
ducirten Empfindungen von der andern nicht mehr unter-
ſcheiden, obgleich die verknuͤpften Einbildungen des Ge-
ſichts ihre individuelle Deutlichkeit behalten haben.
Schon in den Empfindungen iſt dieſer Unterſchied der
Klarheit merkbar. Tauſend aͤußere Empfindungen ſind
auf einerley Art angenehm oder unangenehm. Aber
wenn ſie es nicht in der Empfindung ſind, ſo ſind ſie es
doch in der Reproduktion, wo man die Eine von der an-
dern nicht anders, als vermittelſt der aſſociirten Jdeen
von den aͤußern Gegenſtaͤnden unterſcheidet.

Dennoch haben auch die Wiedervorſtellungen der in-
nern
Gemuͤthsbewegungen ihr Unterſcheidendes. Es
giebt z. B. mannigfaltige Arten und Stufen der Luſt
und des Misfallens, mehrere, als wir mit eigenen Na-
men beleget haben, die ihr Charakteriſtiſches in der Wie-
dererinnerung nicht verlieren. Bey dem Anſchauen ei-
ner Perſon empfinden wir Freundſchaft; bey der andern
Liebe. Ein Paar Empfindniſſe, die ſich auch in der
Reproduktion eben ſo ſtark von einander auszeichnen,
als das Geſichtsbild von dem Freunde, und von der Ge-
liebten. Noch mehr. Es iſt auch einiger individueller
Unterſchied bey einerley Art von Gefuͤhlen vorhanden, der
in der Reproduktion nicht allemal zu ſchwach iſt, um
beobachtet werden zu koͤnnen. Man frage die empfind-
ſamen Leute, wenn man ſelbſt es nicht genug iſt, um
aus ſeiner eigenen Erfahrung eine Menge einzelner Faͤlle

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[74/0134] I. Verſuch. Ueber die Natur dieſem Stuͤcke einen Vorzug, oder kann ihn durch Ue- bung erlangen. Man wird es z. B. gewohnt, im Dunkeln ſeinen Hut aus einer Menge anderer heraus- zufuͤhlen. Dagegen iſt das Vergnuͤgen, was man in der Ge- ſellſchaft mit einem Freunde genoſſen hat, oft ſo ſehr ei- nerley mit dem Vergnuͤgen, das die Geſellſchaft des an- dern verurſachte, daß, wenn man ſich an beides wieder erinnert, ſo ſcheint es, man koͤnne die Eine ſolcher repro- ducirten Empfindungen von der andern nicht mehr unter- ſcheiden, obgleich die verknuͤpften Einbildungen des Ge- ſichts ihre individuelle Deutlichkeit behalten haben. Schon in den Empfindungen iſt dieſer Unterſchied der Klarheit merkbar. Tauſend aͤußere Empfindungen ſind auf einerley Art angenehm oder unangenehm. Aber wenn ſie es nicht in der Empfindung ſind, ſo ſind ſie es doch in der Reproduktion, wo man die Eine von der an- dern nicht anders, als vermittelſt der aſſociirten Jdeen von den aͤußern Gegenſtaͤnden unterſcheidet. Dennoch haben auch die Wiedervorſtellungen der in- nern Gemuͤthsbewegungen ihr Unterſcheidendes. Es giebt z. B. mannigfaltige Arten und Stufen der Luſt und des Misfallens, mehrere, als wir mit eigenen Na- men beleget haben, die ihr Charakteriſtiſches in der Wie- dererinnerung nicht verlieren. Bey dem Anſchauen ei- ner Perſon empfinden wir Freundſchaft; bey der andern Liebe. Ein Paar Empfindniſſe, die ſich auch in der Reproduktion eben ſo ſtark von einander auszeichnen, als das Geſichtsbild von dem Freunde, und von der Ge- liebten. Noch mehr. Es iſt auch einiger individueller Unterſchied bey einerley Art von Gefuͤhlen vorhanden, der in der Reproduktion nicht allemal zu ſchwach iſt, um beobachtet werden zu koͤnnen. Man frage die empfind- ſamen Leute, wenn man ſelbſt es nicht genug iſt, um aus ſeiner eigenen Erfahrung eine Menge einzelner Faͤlle bey

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/134>, abgerufen am 02.05.2024.