Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungen.
Vorstellungen werden auf einander wieder er-
wecket nach ihrer vorigen Verbindung und nach
ihrer Aehnlichkeit.

Drittens. Aber auch dieses Wiederhervorbringen
der Jdeen ist noch nicht alles, was die menschliche Vor-
stellungskraft mit ihnen vornimmt. Sie bringet sie
nicht allein wieder hervor, verändert nicht bloß die vori-
ge Koexistenz, indem sie einige näher zusammenbringet,
als sie es vorher waren, andere wiederum weiter aus-
einandersetzet, und also ihre Stellen und Verbindungen
bald so bald anders bestimmt, sondern sie schaffet auch
neue Bilder und Vorstellungen aus dem in den Em-
pfindungen aufgenommenen Stoff. Diese Wirkungen
sind oben schon angezeiget worden. Die Seele kann
nicht nur ihre Vorstellungen stellen und ordnen, wie der
Aufseher über eine Gallerie die Bilder, sondern sie ist
selbst Mahler und erfindet und verfertiget neue Ge-
mälde.

Diese Verrichtungen gehören dem Dichtungsver-
mögen
zu; einer schaffenden Kraft, deren Wirksam-
keitssphäre einen größern Umfang zu haben scheinet, als
ihr gemeiniglich zuerkannt wird. Sie ist die selbstthä-
tige Phantasie; das Genie nach des Hrn. Girards
Erklärung, und ohne Zweifel ein wesentliches Jngre-
dienz des Genies, auch in einer weitern Bedeutung des
Worts, die das Genie nicht eben allein auf Dichter-
genie
einschränket.

Jch weis keine Thätigkeit der Seele, in so ferne sie
mit den Vorstellungen zu thun hat, welche nicht unter
eine von diesen dreyen gebracht werden könnte. Nur,
wie ich vorher erinnert habe, diejenigen noch bey Seite
gesetzet, wodurch Bewußtseyn entstehet, und Vorstellun-
gen zu Jdeen und Begriffen erhoben werden.

XIV.

der Vorſtellungen.
Vorſtellungen werden auf einander wieder er-
wecket nach ihrer vorigen Verbindung und nach
ihrer Aehnlichkeit.

Drittens. Aber auch dieſes Wiederhervorbringen
der Jdeen iſt noch nicht alles, was die menſchliche Vor-
ſtellungskraft mit ihnen vornimmt. Sie bringet ſie
nicht allein wieder hervor, veraͤndert nicht bloß die vori-
ge Koexiſtenz, indem ſie einige naͤher zuſammenbringet,
als ſie es vorher waren, andere wiederum weiter aus-
einanderſetzet, und alſo ihre Stellen und Verbindungen
bald ſo bald anders beſtimmt, ſondern ſie ſchaffet auch
neue Bilder und Vorſtellungen aus dem in den Em-
pfindungen aufgenommenen Stoff. Dieſe Wirkungen
ſind oben ſchon angezeiget worden. Die Seele kann
nicht nur ihre Vorſtellungen ſtellen und ordnen, wie der
Aufſeher uͤber eine Gallerie die Bilder, ſondern ſie iſt
ſelbſt Mahler und erfindet und verfertiget neue Ge-
maͤlde.

Dieſe Verrichtungen gehoͤren dem Dichtungsver-
moͤgen
zu; einer ſchaffenden Kraft, deren Wirkſam-
keitsſphaͤre einen groͤßern Umfang zu haben ſcheinet, als
ihr gemeiniglich zuerkannt wird. Sie iſt die ſelbſtthaͤ-
tige Phantaſie; das Genie nach des Hrn. Girards
Erklaͤrung, und ohne Zweifel ein weſentliches Jngre-
dienz des Genies, auch in einer weitern Bedeutung des
Worts, die das Genie nicht eben allein auf Dichter-
genie
einſchraͤnket.

Jch weis keine Thaͤtigkeit der Seele, in ſo ferne ſie
mit den Vorſtellungen zu thun hat, welche nicht unter
eine von dieſen dreyen gebracht werden koͤnnte. Nur,
wie ich vorher erinnert habe, diejenigen noch bey Seite
geſetzet, wodurch Bewußtſeyn entſtehet, und Vorſtellun-
gen zu Jdeen und Begriffen erhoben werden.

XIV.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p>
            <pb facs="#f0167" n="107"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungen.</hi> </fw><lb/> <hi rendition="#fr">Vor&#x017F;tellungen werden auf einander wieder er-<lb/>
wecket nach ihrer vorigen Verbindung und nach<lb/>
ihrer Aehnlichkeit.</hi> </p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Drittens.</hi> Aber auch die&#x017F;es Wiederhervorbringen<lb/>
der Jdeen i&#x017F;t noch nicht alles, was die men&#x017F;chliche Vor-<lb/>
&#x017F;tellungskraft mit ihnen vornimmt. Sie bringet &#x017F;ie<lb/>
nicht allein wieder hervor, vera&#x0364;ndert nicht bloß die vori-<lb/>
ge Koexi&#x017F;tenz, indem &#x017F;ie einige na&#x0364;her zu&#x017F;ammenbringet,<lb/>
als &#x017F;ie es vorher waren, andere wiederum weiter aus-<lb/>
einander&#x017F;etzet, und al&#x017F;o ihre Stellen und Verbindungen<lb/>
bald &#x017F;o bald anders be&#x017F;timmt, &#x017F;ondern &#x017F;ie &#x017F;chaffet auch<lb/><hi rendition="#fr">neue</hi> Bilder und Vor&#x017F;tellungen aus dem in den Em-<lb/>
pfindungen aufgenommenen Stoff. Die&#x017F;e Wirkungen<lb/>
&#x017F;ind oben &#x017F;chon angezeiget worden. Die Seele kann<lb/>
nicht nur ihre Vor&#x017F;tellungen &#x017F;tellen und ordnen, wie der<lb/>
Auf&#x017F;eher u&#x0364;ber eine Gallerie die Bilder, &#x017F;ondern &#x017F;ie i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t Mahler und erfindet und verfertiget neue Ge-<lb/>
ma&#x0364;lde.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e Verrichtungen geho&#x0364;ren dem <hi rendition="#fr">Dichtungsver-<lb/>
mo&#x0364;gen</hi> zu; einer &#x017F;chaffenden Kraft, deren Wirk&#x017F;am-<lb/>
keits&#x017F;pha&#x0364;re einen gro&#x0364;ßern Umfang zu haben &#x017F;cheinet, als<lb/>
ihr gemeiniglich zuerkannt wird. Sie i&#x017F;t die &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;-<lb/>
tige Phanta&#x017F;ie; das <hi rendition="#fr">Genie</hi> nach des Hrn. <hi rendition="#fr">Girards</hi><lb/>
Erkla&#x0364;rung, und ohne Zweifel ein we&#x017F;entliches Jngre-<lb/>
dienz des Genies, auch in einer weitern Bedeutung des<lb/>
Worts, die das Genie nicht eben allein auf <hi rendition="#fr">Dichter-<lb/>
genie</hi> ein&#x017F;chra&#x0364;nket.</p><lb/>
          <p>Jch weis keine Tha&#x0364;tigkeit der Seele, in &#x017F;o ferne &#x017F;ie<lb/>
mit den Vor&#x017F;tellungen zu thun hat, welche nicht unter<lb/>
eine von die&#x017F;en dreyen gebracht werden ko&#x0364;nnte. Nur,<lb/>
wie ich vorher erinnert habe, diejenigen noch bey Seite<lb/>
ge&#x017F;etzet, wodurch Bewußt&#x017F;eyn ent&#x017F;tehet, und Vor&#x017F;tellun-<lb/>
gen zu Jdeen und Begriffen erhoben werden.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">XIV.</hi> </fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0167] der Vorſtellungen. Vorſtellungen werden auf einander wieder er- wecket nach ihrer vorigen Verbindung und nach ihrer Aehnlichkeit. Drittens. Aber auch dieſes Wiederhervorbringen der Jdeen iſt noch nicht alles, was die menſchliche Vor- ſtellungskraft mit ihnen vornimmt. Sie bringet ſie nicht allein wieder hervor, veraͤndert nicht bloß die vori- ge Koexiſtenz, indem ſie einige naͤher zuſammenbringet, als ſie es vorher waren, andere wiederum weiter aus- einanderſetzet, und alſo ihre Stellen und Verbindungen bald ſo bald anders beſtimmt, ſondern ſie ſchaffet auch neue Bilder und Vorſtellungen aus dem in den Em- pfindungen aufgenommenen Stoff. Dieſe Wirkungen ſind oben ſchon angezeiget worden. Die Seele kann nicht nur ihre Vorſtellungen ſtellen und ordnen, wie der Aufſeher uͤber eine Gallerie die Bilder, ſondern ſie iſt ſelbſt Mahler und erfindet und verfertiget neue Ge- maͤlde. Dieſe Verrichtungen gehoͤren dem Dichtungsver- moͤgen zu; einer ſchaffenden Kraft, deren Wirkſam- keitsſphaͤre einen groͤßern Umfang zu haben ſcheinet, als ihr gemeiniglich zuerkannt wird. Sie iſt die ſelbſtthaͤ- tige Phantaſie; das Genie nach des Hrn. Girards Erklaͤrung, und ohne Zweifel ein weſentliches Jngre- dienz des Genies, auch in einer weitern Bedeutung des Worts, die das Genie nicht eben allein auf Dichter- genie einſchraͤnket. Jch weis keine Thaͤtigkeit der Seele, in ſo ferne ſie mit den Vorſtellungen zu thun hat, welche nicht unter eine von dieſen dreyen gebracht werden koͤnnte. Nur, wie ich vorher erinnert habe, diejenigen noch bey Seite geſetzet, wodurch Bewußtſeyn entſtehet, und Vorſtellun- gen zu Jdeen und Begriffen erhoben werden. XIV.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/167
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/167>, abgerufen am 07.05.2024.