Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

über Empfindungen u. Empfindnisse.
sieht man, daß es unterschiedene Wirkungsarten sind,
worinn auch ihre Verschiedenheit bestehen, und wie weit
hinein sie sich erstrecken mag. Ein Beobachter muß
diesen Verschiedenheiten nachgehen, um das, was auf
der Außenseite der Seele lieget, so viel es angeht, deut-
lich und bestimmt zu fassen. Nachher läßt sich erst ver-
gleichen. Wie die wirklichen Wesen alle, so lieget auch
die Seele vor unserm Verstand. Er kann um sie her-
um gehen, auch nur an einigen Stellen; aber nicht an-
ders, als mit vielen Vorkenntnissen versehen, es wagen,
in sie hineinzudringen.

Der Aktus des Percipirens ist in dem vorherge-
gangenen Versuch beobachtet worden, ob es gleich nicht
das erste in der Seele ist. Es schien mir etwas heller
sich zu zeigen, als das Fühlen und Gewahrnehmen.
Das letztere von diesen will ich auch hier noch wiederum
aussetzen. Gewahrnehmen ist mehr, als ein bloßes
Fühlen und Empfinden, obgleich alles, was gewahrge-
nommen wird, auch empfunden wird oder empfunden
worden ist; aber wenn es auch mit dem Fühlen und
Empfinden am Ende völlig einerley seyn möchte, so will
ich diese Frage hier doch in der gegenwärtigen Betrach-
tung vorbeygehen.

Die gefühlten Modifikationes von uns heißen darum
Gefühle, Empfindungen oder auch Empfindnisse,
weil das Vermögen zu Fühlen und zu Empfinden,
welches ich mit Einem Wort Gefühl nennen will, ob-
gleich dieß Wort auch oft den Aktus des Gefühls anzei-
get, am vorzüglichsten bey ihnen beschäftiget ist. Wir
nennen sie nach ihrem vornehmsten Theil also. Es mö-
gen mehrere Seelenfähigkeiten bey jeder einzelnen Em-
pfindung wirksam seyn, wie es bey den klaren Empfin-
dungen außer Zweifel ist. Das Empfinden, das Füh-
len ist gleichwohl in ihnen die Hauptäußerung der Seele.

II. Eini-
L 5

uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
ſieht man, daß es unterſchiedene Wirkungsarten ſind,
worinn auch ihre Verſchiedenheit beſtehen, und wie weit
hinein ſie ſich erſtrecken mag. Ein Beobachter muß
dieſen Verſchiedenheiten nachgehen, um das, was auf
der Außenſeite der Seele lieget, ſo viel es angeht, deut-
lich und beſtimmt zu faſſen. Nachher laͤßt ſich erſt ver-
gleichen. Wie die wirklichen Weſen alle, ſo lieget auch
die Seele vor unſerm Verſtand. Er kann um ſie her-
um gehen, auch nur an einigen Stellen; aber nicht an-
ders, als mit vielen Vorkenntniſſen verſehen, es wagen,
in ſie hineinzudringen.

Der Aktus des Percipirens iſt in dem vorherge-
gangenen Verſuch beobachtet worden, ob es gleich nicht
das erſte in der Seele iſt. Es ſchien mir etwas heller
ſich zu zeigen, als das Fuͤhlen und Gewahrnehmen.
Das letztere von dieſen will ich auch hier noch wiederum
ausſetzen. Gewahrnehmen iſt mehr, als ein bloßes
Fuͤhlen und Empfinden, obgleich alles, was gewahrge-
nommen wird, auch empfunden wird oder empfunden
worden iſt; aber wenn es auch mit dem Fuͤhlen und
Empfinden am Ende voͤllig einerley ſeyn moͤchte, ſo will
ich dieſe Frage hier doch in der gegenwaͤrtigen Betrach-
tung vorbeygehen.

Die gefuͤhlten Modifikationes von uns heißen darum
Gefuͤhle, Empfindungen oder auch Empfindniſſe,
weil das Vermoͤgen zu Fuͤhlen und zu Empfinden,
welches ich mit Einem Wort Gefuͤhl nennen will, ob-
gleich dieß Wort auch oft den Aktus des Gefuͤhls anzei-
get, am vorzuͤglichſten bey ihnen beſchaͤftiget iſt. Wir
nennen ſie nach ihrem vornehmſten Theil alſo. Es moͤ-
gen mehrere Seelenfaͤhigkeiten bey jeder einzelnen Em-
pfindung wirkſam ſeyn, wie es bey den klaren Empfin-
dungen außer Zweifel iſt. Das Empfinden, das Fuͤh-
len iſt gleichwohl in ihnen die Hauptaͤußerung der Seele.

II. Eini-
L 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0229" n="169"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">u&#x0364;ber Empfindungen u. Empfindni&#x017F;&#x017F;e.</hi></fw><lb/>
&#x017F;ieht man, daß es unter&#x017F;chiedene Wirkungsarten &#x017F;ind,<lb/>
worinn auch ihre Ver&#x017F;chiedenheit be&#x017F;tehen, und wie weit<lb/>
hinein &#x017F;ie &#x017F;ich er&#x017F;trecken mag. Ein Beobachter muß<lb/>
die&#x017F;en Ver&#x017F;chiedenheiten nachgehen, um das, was auf<lb/>
der Außen&#x017F;eite der Seele lieget, &#x017F;o viel es angeht, deut-<lb/>
lich und be&#x017F;timmt zu fa&#x017F;&#x017F;en. Nachher la&#x0364;ßt &#x017F;ich er&#x017F;t ver-<lb/>
gleichen. Wie die wirklichen We&#x017F;en alle, &#x017F;o lieget auch<lb/>
die Seele vor un&#x017F;erm Ver&#x017F;tand. Er kann um &#x017F;ie her-<lb/>
um gehen, auch nur an einigen Stellen; aber nicht an-<lb/>
ders, als mit vielen Vorkenntni&#x017F;&#x017F;en ver&#x017F;ehen, es wagen,<lb/>
in &#x017F;ie hineinzudringen.</p><lb/>
          <p>Der Aktus des Percipirens i&#x017F;t in dem vorherge-<lb/>
gangenen Ver&#x017F;uch beobachtet worden, ob es gleich nicht<lb/>
das er&#x017F;te in der Seele i&#x017F;t. Es &#x017F;chien mir etwas heller<lb/>
&#x017F;ich zu zeigen, als das Fu&#x0364;hlen und Gewahrnehmen.<lb/>
Das letztere von die&#x017F;en will ich auch hier noch wiederum<lb/>
aus&#x017F;etzen. Gewahrnehmen i&#x017F;t mehr, als ein bloßes<lb/>
Fu&#x0364;hlen und Empfinden, obgleich alles, was gewahrge-<lb/>
nommen wird, auch empfunden wird oder empfunden<lb/>
worden i&#x017F;t; aber wenn es auch mit dem Fu&#x0364;hlen und<lb/>
Empfinden am Ende vo&#x0364;llig einerley &#x017F;eyn mo&#x0364;chte, &#x017F;o will<lb/>
ich die&#x017F;e Frage hier doch in der gegenwa&#x0364;rtigen Betrach-<lb/>
tung vorbeygehen.</p><lb/>
          <p>Die gefu&#x0364;hlten Modifikationes von uns heißen darum<lb/>
Gefu&#x0364;hle, <hi rendition="#fr">Empfindungen</hi> oder auch <hi rendition="#fr">Empfindni&#x017F;&#x017F;e,</hi><lb/>
weil <hi rendition="#fr">das Vermo&#x0364;gen zu Fu&#x0364;hlen und zu Empfinden,</hi><lb/>
welches ich mit Einem Wort <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl</hi> nennen will, ob-<lb/>
gleich dieß Wort auch oft den Aktus des Gefu&#x0364;hls anzei-<lb/>
get, am vorzu&#x0364;glich&#x017F;ten bey ihnen be&#x017F;cha&#x0364;ftiget i&#x017F;t. Wir<lb/>
nennen &#x017F;ie nach ihrem vornehm&#x017F;ten Theil al&#x017F;o. Es mo&#x0364;-<lb/>
gen mehrere Seelenfa&#x0364;higkeiten bey jeder einzelnen Em-<lb/>
pfindung wirk&#x017F;am &#x017F;eyn, wie es bey den klaren Empfin-<lb/>
dungen außer Zweifel i&#x017F;t. Das Empfinden, das Fu&#x0364;h-<lb/>
len i&#x017F;t gleichwohl in ihnen die Haupta&#x0364;ußerung der Seele.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">L 5</fw>
        <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">II.</hi> Eini-</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169/0229] uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. ſieht man, daß es unterſchiedene Wirkungsarten ſind, worinn auch ihre Verſchiedenheit beſtehen, und wie weit hinein ſie ſich erſtrecken mag. Ein Beobachter muß dieſen Verſchiedenheiten nachgehen, um das, was auf der Außenſeite der Seele lieget, ſo viel es angeht, deut- lich und beſtimmt zu faſſen. Nachher laͤßt ſich erſt ver- gleichen. Wie die wirklichen Weſen alle, ſo lieget auch die Seele vor unſerm Verſtand. Er kann um ſie her- um gehen, auch nur an einigen Stellen; aber nicht an- ders, als mit vielen Vorkenntniſſen verſehen, es wagen, in ſie hineinzudringen. Der Aktus des Percipirens iſt in dem vorherge- gangenen Verſuch beobachtet worden, ob es gleich nicht das erſte in der Seele iſt. Es ſchien mir etwas heller ſich zu zeigen, als das Fuͤhlen und Gewahrnehmen. Das letztere von dieſen will ich auch hier noch wiederum ausſetzen. Gewahrnehmen iſt mehr, als ein bloßes Fuͤhlen und Empfinden, obgleich alles, was gewahrge- nommen wird, auch empfunden wird oder empfunden worden iſt; aber wenn es auch mit dem Fuͤhlen und Empfinden am Ende voͤllig einerley ſeyn moͤchte, ſo will ich dieſe Frage hier doch in der gegenwaͤrtigen Betrach- tung vorbeygehen. Die gefuͤhlten Modifikationes von uns heißen darum Gefuͤhle, Empfindungen oder auch Empfindniſſe, weil das Vermoͤgen zu Fuͤhlen und zu Empfinden, welches ich mit Einem Wort Gefuͤhl nennen will, ob- gleich dieß Wort auch oft den Aktus des Gefuͤhls anzei- get, am vorzuͤglichſten bey ihnen beſchaͤftiget iſt. Wir nennen ſie nach ihrem vornehmſten Theil alſo. Es moͤ- gen mehrere Seelenfaͤhigkeiten bey jeder einzelnen Em- pfindung wirkſam ſeyn, wie es bey den klaren Empfin- dungen außer Zweifel iſt. Das Empfinden, das Fuͤh- len iſt gleichwohl in ihnen die Hauptaͤußerung der Seele. II. Eini- L 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/229
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/229>, abgerufen am 27.04.2024.