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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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über Empfindungen u. Empfindnisse.
sich auf das Vergangene; die Vorhersehungen, das Ver-
langen, die Bestrebungen auf das Künftige. Aber was
wir fühlen, ist gegenwärtig. Daraus folget also soviel,
Fühlen sey ein Thun oder ein Leiden in der Seele, so
bestehet es, in so ferne es das nur allein ist, in keinem
Bestreben, in keinem Ansatz, eine neue Veränderung zu
bewirken. Es gehet nicht über das Gegenwärtige hin-
aus. Jst es eine Art von Aktion, so ist es weiter nichts,
als eine solche, die einer Reaktion bey den Körpern
ähnlich ist.

So haben verschiedene Philosophen es auch angese-
hen. Fühlen scheint ihnen das Rückwirken eines
vorstellenden Wesens zu seyn. Aber man muß sich
erinnern, daß dieser Name ein metaphorischer Ausdruck
ist, der eine Aehnlichkeit in sich schließet, und daß man
da, wo auf diese Jdee etwas gebauet wird, nicht über
die aus den Beobachtungen erwiesene Aehnlichkeit hin-
ausgehen darf. Die Reaktion eines Körpers beziehet
sich auf eine Veränderung, die durch sie in einem andern
Körper verursachet wird, dessen Kraft den reagirenden
verändert hat. Jst es schon erwiesen, wie es verschiede-
ne annehmen, daß die Seele, wenn sie fühlet, immer
unmittelbar auf ein äußeres Wesen, auf das Gehirn oder
auf das innere Empfindungswerkzeug zurückwirke? Jst
man berechtiget, dieß daraus zu folgern, weil man das
Fühlen ein Rückwirken zu nennen beliebet hat?

Wir nehmen unsere Vorstellungen, auch die von abwe-
senden und vergangenen Dingen, gewahr; wir empfinden
auch die Jdeen, wir fühlen sie,| und zuweilen ihre beschwer-
liche Gegenwartungerne. Wir erinnern uns eines genosse-
nen Vergnügens, und empfinden dieses Andenken. Jn
beiden Füllen fühlen wir etwas, und nehmen etwas ge-
wahr. Aber auch in beiden Fällen hat das Fühlen ein
gegenwärtiges Objekt. Wir fühlen nemlich die gegen-
wärtige Vorstellung des Vergangenen, nicht aber das

vergan-

uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
ſich auf das Vergangene; die Vorherſehungen, das Ver-
langen, die Beſtrebungen auf das Kuͤnftige. Aber was
wir fuͤhlen, iſt gegenwaͤrtig. Daraus folget alſo ſoviel,
Fuͤhlen ſey ein Thun oder ein Leiden in der Seele, ſo
beſtehet es, in ſo ferne es das nur allein iſt, in keinem
Beſtreben, in keinem Anſatz, eine neue Veraͤnderung zu
bewirken. Es gehet nicht uͤber das Gegenwaͤrtige hin-
aus. Jſt es eine Art von Aktion, ſo iſt es weiter nichts,
als eine ſolche, die einer Reaktion bey den Koͤrpern
aͤhnlich iſt.

So haben verſchiedene Philoſophen es auch angeſe-
hen. Fuͤhlen ſcheint ihnen das Ruͤckwirken eines
vorſtellenden Weſens zu ſeyn. Aber man muß ſich
erinnern, daß dieſer Name ein metaphoriſcher Ausdruck
iſt, der eine Aehnlichkeit in ſich ſchließet, und daß man
da, wo auf dieſe Jdee etwas gebauet wird, nicht uͤber
die aus den Beobachtungen erwieſene Aehnlichkeit hin-
ausgehen darf. Die Reaktion eines Koͤrpers beziehet
ſich auf eine Veraͤnderung, die durch ſie in einem andern
Koͤrper verurſachet wird, deſſen Kraft den reagirenden
veraͤndert hat. Jſt es ſchon erwieſen, wie es verſchiede-
ne annehmen, daß die Seele, wenn ſie fuͤhlet, immer
unmittelbar auf ein aͤußeres Weſen, auf das Gehirn oder
auf das innere Empfindungswerkzeug zuruͤckwirke? Jſt
man berechtiget, dieß daraus zu folgern, weil man das
Fuͤhlen ein Ruͤckwirken zu nennen beliebet hat?

Wir nehmen unſere Vorſtellungen, auch die von abwe-
ſenden und vergangenen Dingen, gewahr; wir empfinden
auch die Jdeen, wir fuͤhlen ſie,| und zuweilen ihre beſchwer-
liche Gegenwartungerne. Wir erinnern uns eines genoſſe-
nen Vergnuͤgens, und empfinden dieſes Andenken. Jn
beiden Fuͤllen fuͤhlen wir etwas, und nehmen etwas ge-
wahr. Aber auch in beiden Faͤllen hat das Fuͤhlen ein
gegenwaͤrtiges Objekt. Wir fuͤhlen nemlich die gegen-
waͤrtige Vorſtellung des Vergangenen, nicht aber das

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[171/0231] uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. ſich auf das Vergangene; die Vorherſehungen, das Ver- langen, die Beſtrebungen auf das Kuͤnftige. Aber was wir fuͤhlen, iſt gegenwaͤrtig. Daraus folget alſo ſoviel, Fuͤhlen ſey ein Thun oder ein Leiden in der Seele, ſo beſtehet es, in ſo ferne es das nur allein iſt, in keinem Beſtreben, in keinem Anſatz, eine neue Veraͤnderung zu bewirken. Es gehet nicht uͤber das Gegenwaͤrtige hin- aus. Jſt es eine Art von Aktion, ſo iſt es weiter nichts, als eine ſolche, die einer Reaktion bey den Koͤrpern aͤhnlich iſt. So haben verſchiedene Philoſophen es auch angeſe- hen. Fuͤhlen ſcheint ihnen das Ruͤckwirken eines vorſtellenden Weſens zu ſeyn. Aber man muß ſich erinnern, daß dieſer Name ein metaphoriſcher Ausdruck iſt, der eine Aehnlichkeit in ſich ſchließet, und daß man da, wo auf dieſe Jdee etwas gebauet wird, nicht uͤber die aus den Beobachtungen erwieſene Aehnlichkeit hin- ausgehen darf. Die Reaktion eines Koͤrpers beziehet ſich auf eine Veraͤnderung, die durch ſie in einem andern Koͤrper verurſachet wird, deſſen Kraft den reagirenden veraͤndert hat. Jſt es ſchon erwieſen, wie es verſchiede- ne annehmen, daß die Seele, wenn ſie fuͤhlet, immer unmittelbar auf ein aͤußeres Weſen, auf das Gehirn oder auf das innere Empfindungswerkzeug zuruͤckwirke? Jſt man berechtiget, dieß daraus zu folgern, weil man das Fuͤhlen ein Ruͤckwirken zu nennen beliebet hat? Wir nehmen unſere Vorſtellungen, auch die von abwe- ſenden und vergangenen Dingen, gewahr; wir empfinden auch die Jdeen, wir fuͤhlen ſie,| und zuweilen ihre beſchwer- liche Gegenwartungerne. Wir erinnern uns eines genoſſe- nen Vergnuͤgens, und empfinden dieſes Andenken. Jn beiden Fuͤllen fuͤhlen wir etwas, und nehmen etwas ge- wahr. Aber auch in beiden Faͤllen hat das Fuͤhlen ein gegenwaͤrtiges Objekt. Wir fuͤhlen nemlich die gegen- waͤrtige Vorſtellung des Vergangenen, nicht aber das vergan-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/231>, abgerufen am 27.04.2024.