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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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II. Versuch. Ueber das Gefühl,
Scharfsinnigkeit viel vortrefliches über diese Sache gesa-
get, und wenn sie nicht überall mit einander überein-
stimmen, so kommt es, wie ich glaube, daher, weil sie
oftmals Wirkungen, die aus mehreren verschiedenen Ur-
sachen entstehen, aus Einer gemeinschaftlichen zu erklä-
ren gesucht haben. Unfälle und Widerwärtigkeiten sind
unangenehm, wenn sie gegenwärtig sind und gefühlet
werden, aber ihre Wiedererinnerung ist oftmals eine
Wollust. Die vermischten Empfindungen, die schon
als gegenwärtige Veränderungen beides, Lust und Un-
lust, bey sich führen, sind, wenn sie als Vergangene
vorgestellet werden, angenehm. Es giebt einige Aus-
nahmen, die man aber nur da antrift, wo das Widri-
ge ein allzugroßes Uebergewicht in der Empfindung ge-
habt hat. Die aus Mitgefühl entspringende unangeneh-
me Empfindnisse, die ein wirkliches Mitleiden sind,
werden fast durchgehends zu ergötzenden Empfindnissen,
wenn man sich ihrer als vergangener wieder erinnert.
Wir finden Vergnügen in der Erzählung und in der Vor-
stellung tragischer Handlungen. Selbst das Häßliche
und Widrige, das Schreckhafte bis auf eine gewisse
Grenze, sehen wir mit Vergnügen in Gemählden abge-
bildet, dessen Empfindung wir nicht aushalten könnten.

Wo die Empfindung selbst schon gemischter Art ist,
da kann die Phantasie durch ihre gewöhnliche Wirkungs-
arten, durch Weglassen, Unterdrücken, Verdunklen von
Einer Seite, und durch Hinzusetzen, Erheben, Auf-
klären von der andern ohne viele Anstrengung die Vor-
stellungen mehr von dem Unangenehmen reinigen und
mehr von dem Gefallenden in sie hineinbringen. Dieß
geschieht auch oft in solchen Fällen, wo in der Empfin-
dung das unangenehme in einem hohen Grad die Ober-
hand hatte. Wie vielmehr muß es geschehen können,
wo jenes schwächer gewesen ist, als das begleitende Ver-
gnügen. Das Unglück mit Standhaftigkeit ertragen

und

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
Scharfſinnigkeit viel vortrefliches uͤber dieſe Sache geſa-
get, und wenn ſie nicht uͤberall mit einander uͤberein-
ſtimmen, ſo kommt es, wie ich glaube, daher, weil ſie
oftmals Wirkungen, die aus mehreren verſchiedenen Ur-
ſachen entſtehen, aus Einer gemeinſchaftlichen zu erklaͤ-
ren geſucht haben. Unfaͤlle und Widerwaͤrtigkeiten ſind
unangenehm, wenn ſie gegenwaͤrtig ſind und gefuͤhlet
werden, aber ihre Wiedererinnerung iſt oftmals eine
Wolluſt. Die vermiſchten Empfindungen, die ſchon
als gegenwaͤrtige Veraͤnderungen beides, Luſt und Un-
luſt, bey ſich fuͤhren, ſind, wenn ſie als Vergangene
vorgeſtellet werden, angenehm. Es giebt einige Aus-
nahmen, die man aber nur da antrift, wo das Widri-
ge ein allzugroßes Uebergewicht in der Empfindung ge-
habt hat. Die aus Mitgefuͤhl entſpringende unangeneh-
me Empfindniſſe, die ein wirkliches Mitleiden ſind,
werden faſt durchgehends zu ergoͤtzenden Empfindniſſen,
wenn man ſich ihrer als vergangener wieder erinnert.
Wir finden Vergnuͤgen in der Erzaͤhlung und in der Vor-
ſtellung tragiſcher Handlungen. Selbſt das Haͤßliche
und Widrige, das Schreckhafte bis auf eine gewiſſe
Grenze, ſehen wir mit Vergnuͤgen in Gemaͤhlden abge-
bildet, deſſen Empfindung wir nicht aushalten koͤnnten.

Wo die Empfindung ſelbſt ſchon gemiſchter Art iſt,
da kann die Phantaſie durch ihre gewoͤhnliche Wirkungs-
arten, durch Weglaſſen, Unterdruͤcken, Verdunklen von
Einer Seite, und durch Hinzuſetzen, Erheben, Auf-
klaͤren von der andern ohne viele Anſtrengung die Vor-
ſtellungen mehr von dem Unangenehmen reinigen und
mehr von dem Gefallenden in ſie hineinbringen. Dieß
geſchieht auch oft in ſolchen Faͤllen, wo in der Empfin-
dung das unangenehme in einem hohen Grad die Ober-
hand hatte. Wie vielmehr muß es geſchehen koͤnnen,
wo jenes ſchwaͤcher geweſen iſt, als das begleitende Ver-
gnuͤgen. Das Ungluͤck mit Standhaftigkeit ertragen

und
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[252/0312] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, Scharfſinnigkeit viel vortrefliches uͤber dieſe Sache geſa- get, und wenn ſie nicht uͤberall mit einander uͤberein- ſtimmen, ſo kommt es, wie ich glaube, daher, weil ſie oftmals Wirkungen, die aus mehreren verſchiedenen Ur- ſachen entſtehen, aus Einer gemeinſchaftlichen zu erklaͤ- ren geſucht haben. Unfaͤlle und Widerwaͤrtigkeiten ſind unangenehm, wenn ſie gegenwaͤrtig ſind und gefuͤhlet werden, aber ihre Wiedererinnerung iſt oftmals eine Wolluſt. Die vermiſchten Empfindungen, die ſchon als gegenwaͤrtige Veraͤnderungen beides, Luſt und Un- luſt, bey ſich fuͤhren, ſind, wenn ſie als Vergangene vorgeſtellet werden, angenehm. Es giebt einige Aus- nahmen, die man aber nur da antrift, wo das Widri- ge ein allzugroßes Uebergewicht in der Empfindung ge- habt hat. Die aus Mitgefuͤhl entſpringende unangeneh- me Empfindniſſe, die ein wirkliches Mitleiden ſind, werden faſt durchgehends zu ergoͤtzenden Empfindniſſen, wenn man ſich ihrer als vergangener wieder erinnert. Wir finden Vergnuͤgen in der Erzaͤhlung und in der Vor- ſtellung tragiſcher Handlungen. Selbſt das Haͤßliche und Widrige, das Schreckhafte bis auf eine gewiſſe Grenze, ſehen wir mit Vergnuͤgen in Gemaͤhlden abge- bildet, deſſen Empfindung wir nicht aushalten koͤnnten. Wo die Empfindung ſelbſt ſchon gemiſchter Art iſt, da kann die Phantaſie durch ihre gewoͤhnliche Wirkungs- arten, durch Weglaſſen, Unterdruͤcken, Verdunklen von Einer Seite, und durch Hinzuſetzen, Erheben, Auf- klaͤren von der andern ohne viele Anſtrengung die Vor- ſtellungen mehr von dem Unangenehmen reinigen und mehr von dem Gefallenden in ſie hineinbringen. Dieß geſchieht auch oft in ſolchen Faͤllen, wo in der Empfin- dung das unangenehme in einem hohen Grad die Ober- hand hatte. Wie vielmehr muß es geſchehen koͤnnen, wo jenes ſchwaͤcher geweſen iſt, als das begleitende Ver- gnuͤgen. Das Ungluͤck mit Standhaftigkeit ertragen und

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/312>, abgerufen am 29.04.2024.