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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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V. Versuch. Ueber den Urspr. unserer
dern. Zum wenigsten ließ sich ein großer Theil der gan-
zen Empfindungsmasse sehr leicht in zwo verschiedene
Haufen vertheilen.

Auf gleiche Art, und aus dem gleichen Grunde muß-
ten auch viele Empfindungen aus dem Körper von den
innern Empfindungen der Seele des denkenden Jchs, es
bestehe, worinn es wolle, unterschieden werden. Jene
beschäftigen zwar das Bewußtseyn und die Denkkraft,
aber doch auf eine solche Art, wie Gegenstände es thun,
wenn die Kraft, welche thätig ist; und das Objekt, wo-
bey sie es ist, auffallend unterschieden sind. Dagegen
die Empfindungen unsers Jchs, besonders unserer Vor-
stellungen und Gedanken, die sich zuerst als zu dieser be-
sondern Klasse gehörige auszeichneten, so innig mit der
Kraft, welche sie gewahrnimmt, vermischt sind, daß
man sie in dem Zeitpunkt nicht gewahrnehmen kann,
wenn sie da sind, sondern sie nur von hinten, wenn sie
vorüber sind, in ihren nachgelassenen Spuren erkennen
muß.

Da war also Veranlassung genug, anderer Verschie-
denheiten in ihren Ursachen und Wirkungen zu geschwei-
chen, wodurch die Unterscheidungskraft auf eine Abson-
derung
des ganzen Chaos von Empfindungen in beson-
dere Haufen gebracht werden konnte, ohne daß sie hiebey
auf eine andere Art, als nach dem allgemeinen Gesetz
des Unterscheidens
verfahren durfte.

Noch ein anderer Umstand muß diese Vertheilung
sehr erleichtern, nemlich die eigene Verbindung sol-
cher Vorstellungen unter sich, die zu derselbigen Klasse
gehören. Sobald z. E. die Augen geschlossen wurden,
so verschwand die ganze Menge von Gesichtsempfindun-
gen auf einmal; wurden sie wieder eröfnet, so erneuerte
sich eine ganze Scene von unendlicher Mannigfaltigkeit.
Auf gleiche Art entstund eine ganze Menge von Empfin-
dungen, wenn der Arm oder der Fuß beweget ward, die

zusam-

V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer
dern. Zum wenigſten ließ ſich ein großer Theil der gan-
zen Empfindungsmaſſe ſehr leicht in zwo verſchiedene
Haufen vertheilen.

Auf gleiche Art, und aus dem gleichen Grunde muß-
ten auch viele Empfindungen aus dem Koͤrper von den
innern Empfindungen der Seele des denkenden Jchs, es
beſtehe, worinn es wolle, unterſchieden werden. Jene
beſchaͤftigen zwar das Bewußtſeyn und die Denkkraft,
aber doch auf eine ſolche Art, wie Gegenſtaͤnde es thun,
wenn die Kraft, welche thaͤtig iſt; und das Objekt, wo-
bey ſie es iſt, auffallend unterſchieden ſind. Dagegen
die Empfindungen unſers Jchs, beſonders unſerer Vor-
ſtellungen und Gedanken, die ſich zuerſt als zu dieſer be-
ſondern Klaſſe gehoͤrige auszeichneten, ſo innig mit der
Kraft, welche ſie gewahrnimmt, vermiſcht ſind, daß
man ſie in dem Zeitpunkt nicht gewahrnehmen kann,
wenn ſie da ſind, ſondern ſie nur von hinten, wenn ſie
voruͤber ſind, in ihren nachgelaſſenen Spuren erkennen
muß.

Da war alſo Veranlaſſung genug, anderer Verſchie-
denheiten in ihren Urſachen und Wirkungen zu geſchwei-
chen, wodurch die Unterſcheidungskraft auf eine Abſon-
derung
des ganzen Chaos von Empfindungen in beſon-
dere Haufen gebracht werden konnte, ohne daß ſie hiebey
auf eine andere Art, als nach dem allgemeinen Geſetz
des Unterſcheidens
verfahren durfte.

Noch ein anderer Umſtand muß dieſe Vertheilung
ſehr erleichtern, nemlich die eigene Verbindung ſol-
cher Vorſtellungen unter ſich, die zu derſelbigen Klaſſe
gehoͤren. Sobald z. E. die Augen geſchloſſen wurden,
ſo verſchwand die ganze Menge von Geſichtsempfindun-
gen auf einmal; wurden ſie wieder eroͤfnet, ſo erneuerte
ſich eine ganze Scene von unendlicher Mannigfaltigkeit.
Auf gleiche Art entſtund eine ganze Menge von Empfin-
dungen, wenn der Arm oder der Fuß beweget ward, die

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[386/0446] V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer dern. Zum wenigſten ließ ſich ein großer Theil der gan- zen Empfindungsmaſſe ſehr leicht in zwo verſchiedene Haufen vertheilen. Auf gleiche Art, und aus dem gleichen Grunde muß- ten auch viele Empfindungen aus dem Koͤrper von den innern Empfindungen der Seele des denkenden Jchs, es beſtehe, worinn es wolle, unterſchieden werden. Jene beſchaͤftigen zwar das Bewußtſeyn und die Denkkraft, aber doch auf eine ſolche Art, wie Gegenſtaͤnde es thun, wenn die Kraft, welche thaͤtig iſt; und das Objekt, wo- bey ſie es iſt, auffallend unterſchieden ſind. Dagegen die Empfindungen unſers Jchs, beſonders unſerer Vor- ſtellungen und Gedanken, die ſich zuerſt als zu dieſer be- ſondern Klaſſe gehoͤrige auszeichneten, ſo innig mit der Kraft, welche ſie gewahrnimmt, vermiſcht ſind, daß man ſie in dem Zeitpunkt nicht gewahrnehmen kann, wenn ſie da ſind, ſondern ſie nur von hinten, wenn ſie voruͤber ſind, in ihren nachgelaſſenen Spuren erkennen muß. Da war alſo Veranlaſſung genug, anderer Verſchie- denheiten in ihren Urſachen und Wirkungen zu geſchwei- chen, wodurch die Unterſcheidungskraft auf eine Abſon- derung des ganzen Chaos von Empfindungen in beſon- dere Haufen gebracht werden konnte, ohne daß ſie hiebey auf eine andere Art, als nach dem allgemeinen Geſetz des Unterſcheidens verfahren durfte. Noch ein anderer Umſtand muß dieſe Vertheilung ſehr erleichtern, nemlich die eigene Verbindung ſol- cher Vorſtellungen unter ſich, die zu derſelbigen Klaſſe gehoͤren. Sobald z. E. die Augen geſchloſſen wurden, ſo verſchwand die ganze Menge von Geſichtsempfindun- gen auf einmal; wurden ſie wieder eroͤfnet, ſo erneuerte ſich eine ganze Scene von unendlicher Mannigfaltigkeit. Auf gleiche Art entſtund eine ganze Menge von Empfin- dungen, wenn der Arm oder der Fuß beweget ward, die zuſam-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/446>, abgerufen am 22.05.2024.