Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.
die allgemeine Formel aller nothwendigen vernei-
nenden Sätze
ist, in demselbigen Verstande, wie das
Princip des Widerspruchs als die allgemeinste For-
mel aller nothwendigen falschen Sätze angesehen
werden kann. Hr. Dalembert scheint denselbigen Ge-
danken gehabt zu haben, da er behauptet, daß alle geo-
metrischen Lehrsätze, und nicht diese nur, sondern auch
alle physischen Wahrheiten für den Verstand, der sie in
ihrer vollkommensten Deutlichkeit durchschauet, nur Ei-
ne
große Wahrheit ausmachen können.*) Ein sehr un-
bestimmter Satz, den schon ältere Philosophen gesaget
haben. Sind denn diese beiden Sätze, "9 ist so viel
als 9" und "2 ist gleich 2" nicht eben so weit unterschie-
dene Sätze, als die Zahlen 9 und 2 selbsten sind, ohner-
achtet in beiden das allgemeine Princip: Ein Ding ist
sich selbst gleich, zum Grunde lieget? Besondere An-
wendungen eines und desselbigen Princips auf besondere
mehr bestimmte aber unterschiedene Begriffe geben doch
verschiedene Sätze, und sind nicht Ein und derselbige
Satz, wenn anders nicht eine allgemeine Aehnlichkeit
mehrerer Urtheile schon ein Grund seyn soll, sie für Ein
Urtheil anzusehen. Die geometrischen Folgerungen und
Schlüsse bestehen in einer Substitution gleicher und ähn-
licher Dinge, und in einem Uebergang von Gleichen zu
Gleichen. Dieß hat der scharfsinnige Mann ohne Zwei-
fel im Sinn gehabt, aber doch in der That sich mehr wi-
tzig, als bestimmt und fruchtbar ausgedruckt, wenn er
saget, daß alles an sich nur Eine Wahrheit ausmache.
Sonsten kann auch wohl in einer andern Hinsicht der Jn-
begrif aller Wahrheiten, der ganze zusammenhängende

Umfang
*) Jn seinem discours preliminaire zur Encyclopädie,
der zu Zürich 1761. mit Anmerkungen eines dunklen
aber scharfsinnigen Schweizerschen Philosophen deutsch
herausgegeben ist. §. 34. 35.
H h 5

der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
die allgemeine Formel aller nothwendigen vernei-
nenden Saͤtze
iſt, in demſelbigen Verſtande, wie das
Princip des Widerſpruchs als die allgemeinſte For-
mel aller nothwendigen falſchen Saͤtze angeſehen
werden kann. Hr. Dalembert ſcheint denſelbigen Ge-
danken gehabt zu haben, da er behauptet, daß alle geo-
metriſchen Lehrſaͤtze, und nicht dieſe nur, ſondern auch
alle phyſiſchen Wahrheiten fuͤr den Verſtand, der ſie in
ihrer vollkommenſten Deutlichkeit durchſchauet, nur Ei-
ne
große Wahrheit ausmachen koͤnnen.*) Ein ſehr un-
beſtimmter Satz, den ſchon aͤltere Philoſophen geſaget
haben. Sind denn dieſe beiden Saͤtze, „9 iſt ſo viel
als 9“ und „2 iſt gleich 2“ nicht eben ſo weit unterſchie-
dene Saͤtze, als die Zahlen 9 und 2 ſelbſten ſind, ohner-
achtet in beiden das allgemeine Princip: Ein Ding iſt
ſich ſelbſt gleich, zum Grunde lieget? Beſondere An-
wendungen eines und deſſelbigen Princips auf beſondere
mehr beſtimmte aber unterſchiedene Begriffe geben doch
verſchiedene Saͤtze, und ſind nicht Ein und derſelbige
Satz, wenn anders nicht eine allgemeine Aehnlichkeit
mehrerer Urtheile ſchon ein Grund ſeyn ſoll, ſie fuͤr Ein
Urtheil anzuſehen. Die geometriſchen Folgerungen und
Schluͤſſe beſtehen in einer Subſtitution gleicher und aͤhn-
licher Dinge, und in einem Uebergang von Gleichen zu
Gleichen. Dieß hat der ſcharfſinnige Mann ohne Zwei-
fel im Sinn gehabt, aber doch in der That ſich mehr wi-
tzig, als beſtimmt und fruchtbar ausgedruckt, wenn er
ſaget, daß alles an ſich nur Eine Wahrheit ausmache.
Sonſten kann auch wohl in einer andern Hinſicht der Jn-
begrif aller Wahrheiten, der ganze zuſammenhaͤngende

Umfang
*) Jn ſeinem diſcours préliminaire zur Encyclopaͤdie,
der zu Zuͤrich 1761. mit Anmerkungen eines dunklen
aber ſcharfſinnigen Schweizerſchen Philoſophen deutſch
herausgegeben iſt. §. 34. 35.
H h 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0549" n="489"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
die allgemeine Formel aller <hi rendition="#fr">nothwendigen vernei-<lb/>
nenden Sa&#x0364;tze</hi> i&#x017F;t, in dem&#x017F;elbigen Ver&#x017F;tande, wie das<lb/><hi rendition="#fr">Princip des Wider&#x017F;pruchs</hi> als die allgemein&#x017F;te For-<lb/>
mel aller <hi rendition="#fr">nothwendigen fal&#x017F;chen Sa&#x0364;tze</hi> ange&#x017F;ehen<lb/>
werden kann. Hr. <hi rendition="#fr">Dalembert</hi> &#x017F;cheint den&#x017F;elbigen Ge-<lb/>
danken gehabt zu haben, da er behauptet, daß <hi rendition="#fr">alle</hi> geo-<lb/>
metri&#x017F;chen Lehr&#x017F;a&#x0364;tze, und nicht die&#x017F;e nur, &#x017F;ondern auch<lb/>
alle phy&#x017F;i&#x017F;chen Wahrheiten fu&#x0364;r den Ver&#x017F;tand, der &#x017F;ie in<lb/>
ihrer vollkommen&#x017F;ten Deutlichkeit durch&#x017F;chauet, nur <hi rendition="#fr">Ei-<lb/>
ne</hi> große Wahrheit ausmachen ko&#x0364;nnen.<note place="foot" n="*)">Jn &#x017F;einem <hi rendition="#aq">di&#x017F;cours préliminaire</hi> zur <hi rendition="#fr">Encyclopa&#x0364;die,</hi><lb/>
der zu Zu&#x0364;rich 1761. mit Anmerkungen eines dunklen<lb/>
aber &#x017F;charf&#x017F;innigen Schweizer&#x017F;chen Philo&#x017F;ophen deut&#x017F;ch<lb/>
herausgegeben i&#x017F;t. §. 34. 35.</note> Ein &#x017F;ehr un-<lb/>
be&#x017F;timmter Satz, den &#x017F;chon a&#x0364;ltere Philo&#x017F;ophen ge&#x017F;aget<lb/>
haben. Sind denn die&#x017F;e beiden Sa&#x0364;tze, &#x201E;9 i&#x017F;t &#x017F;o viel<lb/>
als 9&#x201C; und &#x201E;2 i&#x017F;t gleich 2&#x201C; nicht eben &#x017F;o weit unter&#x017F;chie-<lb/>
dene Sa&#x0364;tze, als die Zahlen 9 und 2 &#x017F;elb&#x017F;ten &#x017F;ind, ohner-<lb/>
achtet in beiden das allgemeine Princip: Ein Ding i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gleich, zum Grunde lieget? Be&#x017F;ondere An-<lb/>
wendungen eines und de&#x017F;&#x017F;elbigen Princips auf be&#x017F;ondere<lb/>
mehr be&#x017F;timmte aber unter&#x017F;chiedene Begriffe geben doch<lb/>
ver&#x017F;chiedene Sa&#x0364;tze, und &#x017F;ind nicht Ein und der&#x017F;elbige<lb/>
Satz, wenn anders nicht eine allgemeine Aehnlichkeit<lb/>
mehrerer Urtheile &#x017F;chon ein Grund &#x017F;eyn &#x017F;oll, &#x017F;ie fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">Ein</hi><lb/>
Urtheil anzu&#x017F;ehen. Die geometri&#x017F;chen Folgerungen und<lb/>
Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e be&#x017F;tehen in einer Sub&#x017F;titution gleicher und a&#x0364;hn-<lb/>
licher Dinge, und in einem Uebergang von Gleichen zu<lb/>
Gleichen. Dieß hat der &#x017F;charf&#x017F;innige Mann ohne Zwei-<lb/>
fel im Sinn gehabt, aber doch in der That &#x017F;ich mehr wi-<lb/>
tzig, als be&#x017F;timmt und fruchtbar ausgedruckt, wenn er<lb/>
&#x017F;aget, daß alles an &#x017F;ich nur <hi rendition="#fr">Eine</hi> Wahrheit ausmache.<lb/>
Son&#x017F;ten kann auch wohl in einer andern Hin&#x017F;icht der Jn-<lb/>
begrif aller Wahrheiten, der ganze zu&#x017F;ammenha&#x0364;ngende<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H h 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Umfang</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[489/0549] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. die allgemeine Formel aller nothwendigen vernei- nenden Saͤtze iſt, in demſelbigen Verſtande, wie das Princip des Widerſpruchs als die allgemeinſte For- mel aller nothwendigen falſchen Saͤtze angeſehen werden kann. Hr. Dalembert ſcheint denſelbigen Ge- danken gehabt zu haben, da er behauptet, daß alle geo- metriſchen Lehrſaͤtze, und nicht dieſe nur, ſondern auch alle phyſiſchen Wahrheiten fuͤr den Verſtand, der ſie in ihrer vollkommenſten Deutlichkeit durchſchauet, nur Ei- ne große Wahrheit ausmachen koͤnnen. *) Ein ſehr un- beſtimmter Satz, den ſchon aͤltere Philoſophen geſaget haben. Sind denn dieſe beiden Saͤtze, „9 iſt ſo viel als 9“ und „2 iſt gleich 2“ nicht eben ſo weit unterſchie- dene Saͤtze, als die Zahlen 9 und 2 ſelbſten ſind, ohner- achtet in beiden das allgemeine Princip: Ein Ding iſt ſich ſelbſt gleich, zum Grunde lieget? Beſondere An- wendungen eines und deſſelbigen Princips auf beſondere mehr beſtimmte aber unterſchiedene Begriffe geben doch verſchiedene Saͤtze, und ſind nicht Ein und derſelbige Satz, wenn anders nicht eine allgemeine Aehnlichkeit mehrerer Urtheile ſchon ein Grund ſeyn ſoll, ſie fuͤr Ein Urtheil anzuſehen. Die geometriſchen Folgerungen und Schluͤſſe beſtehen in einer Subſtitution gleicher und aͤhn- licher Dinge, und in einem Uebergang von Gleichen zu Gleichen. Dieß hat der ſcharfſinnige Mann ohne Zwei- fel im Sinn gehabt, aber doch in der That ſich mehr wi- tzig, als beſtimmt und fruchtbar ausgedruckt, wenn er ſaget, daß alles an ſich nur Eine Wahrheit ausmache. Sonſten kann auch wohl in einer andern Hinſicht der Jn- begrif aller Wahrheiten, der ganze zuſammenhaͤngende Umfang *) Jn ſeinem diſcours préliminaire zur Encyclopaͤdie, der zu Zuͤrich 1761. mit Anmerkungen eines dunklen aber ſcharfſinnigen Schweizerſchen Philoſophen deutſch herausgegeben iſt. §. 34. 35. H h 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/549
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/549>, abgerufen am 15.05.2024.