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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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des Empfindens, des Vorstellens etc.
mung der Beziehungen zwischen den Objekten, ohne
welches doch keine eigentlichen Urtheile und keine Schlüs-
se möglich sind. Aber dennoch ist soviel außer Zweifel,
daß die positiven Grundvermögen, wodurch die mensch-
liche Seele ein verständiges Wesen wird, in den ange-
führten Fähigkeiten bestehen, und daß ihre größte Ent-
wickelung nicht anders, als durch die Erhöhung, Ver-
stärkung, Ausdehnung, das ist, durch die Entwicke-
lung von jenem beschaffet werde. Jn der ersten Ge-
wahrnehmung des Kindes finden wir die vernünftige
Menschenseele schon völlig gebildet und gebohren; denn
was weiter geschicht, bestehet blos in dem Auswachsen.

Aber wie bey dem Körper die Entwickelung des
Embryons von dem Anfang des Lebens an bis zu der
Geburt weit tiefer im Dunkeln lieget, als das Auswach-
sen des gebohrnen Kindes, so ist es auch bey der mensch-
lichen Seele. Von dem Punkt an, da ihre ganze Wirk-
samkeit, in so ferne sie beobachtbar ist, aufs Fühlen
sich einschränket, bis zu der ersten Aeußerung der Denk-
kraft hin, in diesem Zwischenraum gehet eine Entwicke-
lung vor, die weit versteckter ist. Aus dem blos füh-
lenden
wird ein vorstellendes, und aus dem vor-
stellenden
ein gewahrnehmendes und denkendes
Ding. An Meinungen und Hypothesen hierüber hat
es nicht gefehlet, und einige von ihnen sind Beweise von
der Scharfsinnigkeit ihrer Erfinder. Aber da ich nun
einmal sehr mißtrauisch gegen die Eingebungen der Phan-
tasie bin, und Beobachtungen oder feste auf Beobach-
tungen gegründete Schlüsse, oder doch zum mindesten
Analogien verlange, so muß ich hier nicht noch etwas
mehr wünschen, als man in den Schriften der Psycho-
logen über diese Sache findet?

Sie wird, man kann nicht sagen, völlig ins Helle
gesetzt, aber hie und da etwas aufgekläret, wenn es bis
zur Evidenz entschieden werden kann, ob die drey erwähn-

ten

des Empfindens, des Vorſtellens ⁊c.
mung der Beziehungen zwiſchen den Objekten, ohne
welches doch keine eigentlichen Urtheile und keine Schluͤſ-
ſe moͤglich ſind. Aber dennoch iſt ſoviel außer Zweifel,
daß die poſitiven Grundvermoͤgen, wodurch die menſch-
liche Seele ein verſtaͤndiges Weſen wird, in den ange-
fuͤhrten Faͤhigkeiten beſtehen, und daß ihre groͤßte Ent-
wickelung nicht anders, als durch die Erhoͤhung, Ver-
ſtaͤrkung, Ausdehnung, das iſt, durch die Entwicke-
lung von jenem beſchaffet werde. Jn der erſten Ge-
wahrnehmung des Kindes finden wir die vernuͤnftige
Menſchenſeele ſchon voͤllig gebildet und gebohren; denn
was weiter geſchicht, beſtehet blos in dem Auswachſen.

Aber wie bey dem Koͤrper die Entwickelung des
Embryons von dem Anfang des Lebens an bis zu der
Geburt weit tiefer im Dunkeln lieget, als das Auswach-
ſen des gebohrnen Kindes, ſo iſt es auch bey der menſch-
lichen Seele. Von dem Punkt an, da ihre ganze Wirk-
ſamkeit, in ſo ferne ſie beobachtbar iſt, aufs Fuͤhlen
ſich einſchraͤnket, bis zu der erſten Aeußerung der Denk-
kraft hin, in dieſem Zwiſchenraum gehet eine Entwicke-
lung vor, die weit verſteckter iſt. Aus dem blos fuͤh-
lenden
wird ein vorſtellendes, und aus dem vor-
ſtellenden
ein gewahrnehmendes und denkendes
Ding. An Meinungen und Hypotheſen hieruͤber hat
es nicht gefehlet, und einige von ihnen ſind Beweiſe von
der Scharfſinnigkeit ihrer Erfinder. Aber da ich nun
einmal ſehr mißtrauiſch gegen die Eingebungen der Phan-
taſie bin, und Beobachtungen oder feſte auf Beobach-
tungen gegruͤndete Schluͤſſe, oder doch zum mindeſten
Analogien verlange, ſo muß ich hier nicht noch etwas
mehr wuͤnſchen, als man in den Schriften der Pſycho-
logen uͤber dieſe Sache findet?

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[591/0651] des Empfindens, des Vorſtellens ⁊c. mung der Beziehungen zwiſchen den Objekten, ohne welches doch keine eigentlichen Urtheile und keine Schluͤſ- ſe moͤglich ſind. Aber dennoch iſt ſoviel außer Zweifel, daß die poſitiven Grundvermoͤgen, wodurch die menſch- liche Seele ein verſtaͤndiges Weſen wird, in den ange- fuͤhrten Faͤhigkeiten beſtehen, und daß ihre groͤßte Ent- wickelung nicht anders, als durch die Erhoͤhung, Ver- ſtaͤrkung, Ausdehnung, das iſt, durch die Entwicke- lung von jenem beſchaffet werde. Jn der erſten Ge- wahrnehmung des Kindes finden wir die vernuͤnftige Menſchenſeele ſchon voͤllig gebildet und gebohren; denn was weiter geſchicht, beſtehet blos in dem Auswachſen. Aber wie bey dem Koͤrper die Entwickelung des Embryons von dem Anfang des Lebens an bis zu der Geburt weit tiefer im Dunkeln lieget, als das Auswach- ſen des gebohrnen Kindes, ſo iſt es auch bey der menſch- lichen Seele. Von dem Punkt an, da ihre ganze Wirk- ſamkeit, in ſo ferne ſie beobachtbar iſt, aufs Fuͤhlen ſich einſchraͤnket, bis zu der erſten Aeußerung der Denk- kraft hin, in dieſem Zwiſchenraum gehet eine Entwicke- lung vor, die weit verſteckter iſt. Aus dem blos fuͤh- lenden wird ein vorſtellendes, und aus dem vor- ſtellenden ein gewahrnehmendes und denkendes Ding. An Meinungen und Hypotheſen hieruͤber hat es nicht gefehlet, und einige von ihnen ſind Beweiſe von der Scharfſinnigkeit ihrer Erfinder. Aber da ich nun einmal ſehr mißtrauiſch gegen die Eingebungen der Phan- taſie bin, und Beobachtungen oder feſte auf Beobach- tungen gegruͤndete Schluͤſſe, oder doch zum mindeſten Analogien verlange, ſo muß ich hier nicht noch etwas mehr wuͤnſchen, als man in den Schriften der Pſycho- logen uͤber dieſe Sache findet? Sie wird, man kann nicht ſagen, voͤllig ins Helle geſetzt, aber hie und da etwas aufgeklaͤret, wenn es bis zur Evidenz entſchieden werden kann, ob die drey erwaͤhn- ten

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/651>, abgerufen am 29.04.2024.