Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungskraft etc.
Menschen gehe, muß die Erfahrung lehren; und sie hat
es schon gelehret, daß es in der That weiter gehe, als
ein Mensch von kaltem Blut und von gesetztern Verstan-
de, es sich nur mit Mühe vorzustellen im Stande ist.
Einige neuere Naturforscher wollen auch den Ursprung
der so genannten Muttermäler aus der Einbildungskraft
der Mutter, jedoch mit Abziehung dessen, was offenbar
Aberglauben und Vorurtheile zu den Faktis hinzugesetzet
hatte, nicht ganz verwerfen. Wenn es nur auf die
Möglichkeit ankäme, so deucht mich, die Gesetze der
Phantasie, mit dem verbunden, was Hr. Bonnet in
seinen vortreflichen Betrachtungen über die organisirten
Körper *) gelehret hat, geben Data genug an die Hand,
die Art und Weise, wie eine solche Fortpflanzung an sich
wohl geschehen könne, begreiflich zu machen. Und dieß
zwar aus dem analogischen Verfahren der Natur. Die
vermeinte Unmöglichkeit der Sache läßt sich wohl heben.
Denn an Ende kommt es nur darauf an, ob wirklich
der Einfluß der Phatasie sich so weit erstrecke, als er
nach den allgemeinen Gesetzen ihrer Wirksamkeit sich
wohl erstrecken könnte? Diese Grenzen muß die Erfah-
rung bestimmen, und nicht die Einbildung sie ausdeh-
nen noch beengen.



IV. Wie
*) Man sehe besonders das achte Kapitel des zweyten
Theils.

der Vorſtellungskraft ⁊c.
Menſchen gehe, muß die Erfahrung lehren; und ſie hat
es ſchon gelehret, daß es in der That weiter gehe, als
ein Menſch von kaltem Blut und von geſetztern Verſtan-
de, es ſich nur mit Muͤhe vorzuſtellen im Stande iſt.
Einige neuere Naturforſcher wollen auch den Urſprung
der ſo genannten Muttermaͤler aus der Einbildungskraft
der Mutter, jedoch mit Abziehung deſſen, was offenbar
Aberglauben und Vorurtheile zu den Faktis hinzugeſetzet
hatte, nicht ganz verwerfen. Wenn es nur auf die
Moͤglichkeit ankaͤme, ſo deucht mich, die Geſetze der
Phantaſie, mit dem verbunden, was Hr. Bonnet in
ſeinen vortreflichen Betrachtungen uͤber die organiſirten
Koͤrper *) gelehret hat, geben Data genug an die Hand,
die Art und Weiſe, wie eine ſolche Fortpflanzung an ſich
wohl geſchehen koͤnne, begreiflich zu machen. Und dieß
zwar aus dem analogiſchen Verfahren der Natur. Die
vermeinte Unmoͤglichkeit der Sache laͤßt ſich wohl heben.
Denn an Ende kommt es nur darauf an, ob wirklich
der Einfluß der Phataſie ſich ſo weit erſtrecke, als er
nach den allgemeinen Geſetzen ihrer Wirkſamkeit ſich
wohl erſtrecken koͤnnte? Dieſe Grenzen muß die Erfah-
rung beſtimmen, und nicht die Einbildung ſie ausdeh-
nen noch beengen.



IV. Wie
*) Man ſehe beſonders das achte Kapitel des zweyten
Theils.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0745" n="685"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungskraft &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
Men&#x017F;chen gehe, muß die Erfahrung lehren; und &#x017F;ie hat<lb/>
es &#x017F;chon gelehret, daß es in der That weiter gehe, als<lb/>
ein Men&#x017F;ch von kaltem Blut und von ge&#x017F;etztern Ver&#x017F;tan-<lb/>
de, es &#x017F;ich nur mit Mu&#x0364;he vorzu&#x017F;tellen im Stande i&#x017F;t.<lb/>
Einige neuere Naturfor&#x017F;cher wollen auch den Ur&#x017F;prung<lb/>
der &#x017F;o genannten Mutterma&#x0364;ler aus der Einbildungskraft<lb/>
der Mutter, jedoch mit Abziehung de&#x017F;&#x017F;en, was offenbar<lb/>
Aberglauben und Vorurtheile zu den Faktis hinzuge&#x017F;etzet<lb/>
hatte, nicht ganz verwerfen. Wenn es nur auf die<lb/>
Mo&#x0364;glichkeit anka&#x0364;me, &#x017F;o deucht mich, die Ge&#x017F;etze der<lb/>
Phanta&#x017F;ie, mit dem verbunden, was Hr. <hi rendition="#fr">Bonnet</hi> in<lb/>
&#x017F;einen vortreflichen Betrachtungen u&#x0364;ber die organi&#x017F;irten<lb/>
Ko&#x0364;rper <note place="foot" n="*)">Man &#x017F;ehe be&#x017F;onders das achte Kapitel des zweyten<lb/>
Theils.</note> gelehret hat, geben Data genug an die Hand,<lb/>
die Art und Wei&#x017F;e, wie eine &#x017F;olche Fortpflanzung an &#x017F;ich<lb/>
wohl ge&#x017F;chehen ko&#x0364;nne, begreiflich zu machen. Und dieß<lb/>
zwar aus dem analogi&#x017F;chen Verfahren der Natur. Die<lb/>
vermeinte Unmo&#x0364;glichkeit der Sache la&#x0364;ßt &#x017F;ich wohl heben.<lb/>
Denn an Ende kommt es nur darauf an, ob wirklich<lb/>
der Einfluß der Phata&#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;o weit er&#x017F;trecke, als er<lb/>
nach den allgemeinen Ge&#x017F;etzen ihrer Wirk&#x017F;amkeit &#x017F;ich<lb/>
wohl er&#x017F;trecken ko&#x0364;nnte? Die&#x017F;e Grenzen muß die Erfah-<lb/>
rung be&#x017F;timmen, und nicht die Einbildung &#x017F;ie ausdeh-<lb/>
nen noch beengen.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Wie</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[685/0745] der Vorſtellungskraft ⁊c. Menſchen gehe, muß die Erfahrung lehren; und ſie hat es ſchon gelehret, daß es in der That weiter gehe, als ein Menſch von kaltem Blut und von geſetztern Verſtan- de, es ſich nur mit Muͤhe vorzuſtellen im Stande iſt. Einige neuere Naturforſcher wollen auch den Urſprung der ſo genannten Muttermaͤler aus der Einbildungskraft der Mutter, jedoch mit Abziehung deſſen, was offenbar Aberglauben und Vorurtheile zu den Faktis hinzugeſetzet hatte, nicht ganz verwerfen. Wenn es nur auf die Moͤglichkeit ankaͤme, ſo deucht mich, die Geſetze der Phantaſie, mit dem verbunden, was Hr. Bonnet in ſeinen vortreflichen Betrachtungen uͤber die organiſirten Koͤrper *) gelehret hat, geben Data genug an die Hand, die Art und Weiſe, wie eine ſolche Fortpflanzung an ſich wohl geſchehen koͤnne, begreiflich zu machen. Und dieß zwar aus dem analogiſchen Verfahren der Natur. Die vermeinte Unmoͤglichkeit der Sache laͤßt ſich wohl heben. Denn an Ende kommt es nur darauf an, ob wirklich der Einfluß der Phataſie ſich ſo weit erſtrecke, als er nach den allgemeinen Geſetzen ihrer Wirkſamkeit ſich wohl erſtrecken koͤnnte? Dieſe Grenzen muß die Erfah- rung beſtimmen, und nicht die Einbildung ſie ausdeh- nen noch beengen. IV. Wie *) Man ſehe beſonders das achte Kapitel des zweyten Theils.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/745
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/745>, abgerufen am 02.05.2024.