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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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X. Versuch. Ueber die Beziehung
blinde Bestreben zur Wirksamkeit, als zu einer Verän-
derung, welche das Gefühl mehr befriediget. Dieses
unbestimmte Verlangen wird zu einer bestimmten auf
einen gewissen Gegenstand gerichteten Begierde, wenn
einmal ein den Bestrebungen der Kraft angemessener
Gegenstand gefunden worden ist. Unangenehme Em-
pfindungen reizen also überhaupt die Aktivität; aber die-
jenigen, die mehr aus dem Mangel des positiven Ver-
gnügens entspringen, sind wirksamer, als diejenigen,
welche in positiven Uebeln bestehen. Jene haben indes-
sen immer etwas von dem letztern in ihrer Begleitung.
Ueberhaupt kann man nicht sagen, daß die Thätigkeit
des Menschen in der Maaße vergrößert werde, wie die
Quantität unangenehmer Empfindnisse vergrößert wird.
Das nicht; sondern nur dann, wenn die abhelfbaren
Bedörfnisse, oder unangenehmen Empfindnisse, deren
man sich durch die Anwendung seiner Kräfte erledigen
kann, vermehret werden, so wird die Jndustrie in dem
Verhältniß gereizet, wie die Summe der Vorstellungen
von angenehmen, durch eigene Arbeit zu erreichenden Ver-
gnügungen vergrößert wird. Ohne vorhergegange-
ne angenehme
Empfindungen würde der Theil der un-
angenehmen Gefühle fehlen, der aus der Beraubung
oder aus dem Mangel entstehet. Angenehme Empfin-
dungen werden also gebrauchet, um Verlangen zu erre-
gen, welches ohne Kenntniß des Guten nicht statt fin-
det. Verlangen und Hofnung und Furcht sind die drey
Triebfedern unserer Wirksamkeit, die den größten Effekt
haben, wenn sie mit einander verbunden sind. Aber
wer sich der Furcht allein bedienet, giebt der Natur eine
schiefe Richtung, oder übertreibt und vernichtet sie.
Man kann damit anfangen, daß man Nachläßigkeit be-
strafet, aber wahre Lust zur Arbeit will am meisten durch
Verlangen und Hoffnung genähret seyn.

8. Die

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
blinde Beſtreben zur Wirkſamkeit, als zu einer Veraͤn-
derung, welche das Gefuͤhl mehr befriediget. Dieſes
unbeſtimmte Verlangen wird zu einer beſtimmten auf
einen gewiſſen Gegenſtand gerichteten Begierde, wenn
einmal ein den Beſtrebungen der Kraft angemeſſener
Gegenſtand gefunden worden iſt. Unangenehme Em-
pfindungen reizen alſo uͤberhaupt die Aktivitaͤt; aber die-
jenigen, die mehr aus dem Mangel des poſitiven Ver-
gnuͤgens entſpringen, ſind wirkſamer, als diejenigen,
welche in poſitiven Uebeln beſtehen. Jene haben indeſ-
ſen immer etwas von dem letztern in ihrer Begleitung.
Ueberhaupt kann man nicht ſagen, daß die Thaͤtigkeit
des Menſchen in der Maaße vergroͤßert werde, wie die
Quantitaͤt unangenehmer Empfindniſſe vergroͤßert wird.
Das nicht; ſondern nur dann, wenn die abhelfbaren
Bedoͤrfniſſe, oder unangenehmen Empfindniſſe, deren
man ſich durch die Anwendung ſeiner Kraͤfte erledigen
kann, vermehret werden, ſo wird die Jnduſtrie in dem
Verhaͤltniß gereizet, wie die Summe der Vorſtellungen
von angenehmen, durch eigene Arbeit zu erreichenden Ver-
gnuͤgungen vergroͤßert wird. Ohne vorhergegange-
ne angenehme
Empfindungen wuͤrde der Theil der un-
angenehmen Gefuͤhle fehlen, der aus der Beraubung
oder aus dem Mangel entſtehet. Angenehme Empfin-
dungen werden alſo gebrauchet, um Verlangen zu erre-
gen, welches ohne Kenntniß des Guten nicht ſtatt fin-
det. Verlangen und Hofnung und Furcht ſind die drey
Triebfedern unſerer Wirkſamkeit, die den groͤßten Effekt
haben, wenn ſie mit einander verbunden ſind. Aber
wer ſich der Furcht allein bedienet, giebt der Natur eine
ſchiefe Richtung, oder uͤbertreibt und vernichtet ſie.
Man kann damit anfangen, daß man Nachlaͤßigkeit be-
ſtrafet, aber wahre Luſt zur Arbeit will am meiſten durch
Verlangen und Hoffnung genaͤhret ſeyn.

8. Die
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[726/0786] X. Verſuch. Ueber die Beziehung blinde Beſtreben zur Wirkſamkeit, als zu einer Veraͤn- derung, welche das Gefuͤhl mehr befriediget. Dieſes unbeſtimmte Verlangen wird zu einer beſtimmten auf einen gewiſſen Gegenſtand gerichteten Begierde, wenn einmal ein den Beſtrebungen der Kraft angemeſſener Gegenſtand gefunden worden iſt. Unangenehme Em- pfindungen reizen alſo uͤberhaupt die Aktivitaͤt; aber die- jenigen, die mehr aus dem Mangel des poſitiven Ver- gnuͤgens entſpringen, ſind wirkſamer, als diejenigen, welche in poſitiven Uebeln beſtehen. Jene haben indeſ- ſen immer etwas von dem letztern in ihrer Begleitung. Ueberhaupt kann man nicht ſagen, daß die Thaͤtigkeit des Menſchen in der Maaße vergroͤßert werde, wie die Quantitaͤt unangenehmer Empfindniſſe vergroͤßert wird. Das nicht; ſondern nur dann, wenn die abhelfbaren Bedoͤrfniſſe, oder unangenehmen Empfindniſſe, deren man ſich durch die Anwendung ſeiner Kraͤfte erledigen kann, vermehret werden, ſo wird die Jnduſtrie in dem Verhaͤltniß gereizet, wie die Summe der Vorſtellungen von angenehmen, durch eigene Arbeit zu erreichenden Ver- gnuͤgungen vergroͤßert wird. Ohne vorhergegange- ne angenehme Empfindungen wuͤrde der Theil der un- angenehmen Gefuͤhle fehlen, der aus der Beraubung oder aus dem Mangel entſtehet. Angenehme Empfin- dungen werden alſo gebrauchet, um Verlangen zu erre- gen, welches ohne Kenntniß des Guten nicht ſtatt fin- det. Verlangen und Hofnung und Furcht ſind die drey Triebfedern unſerer Wirkſamkeit, die den groͤßten Effekt haben, wenn ſie mit einander verbunden ſind. Aber wer ſich der Furcht allein bedienet, giebt der Natur eine ſchiefe Richtung, oder uͤbertreibt und vernichtet ſie. Man kann damit anfangen, daß man Nachlaͤßigkeit be- ſtrafet, aber wahre Luſt zur Arbeit will am meiſten durch Verlangen und Hoffnung genaͤhret ſeyn. 8. Die

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 726. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/786>, abgerufen am 29.04.2024.