Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Freyheit.
mit sammt der Möglichkeit des Gegentheils in der phi-
losophischen Sprache gänzlich enthalten würde.

Jch will damit nicht sagen, daß man sich ihrer
nicht mit Nutzen bedienen könne, wenn nur ihre Be-
deutung vorher so genau bestimmt ist, als sie es bey all-
gemeinen Begriffen seyn muß, die wir zum Grunde
unserer Schlüsse legen wollen.

Die Spekulationen über die gedachten Begriffe
führen zu Distinktionen, die im allgemeinen vorgetra-
gen, fein genug sind, um als sachleere Spitzfindigkei-
ten zu erscheinen, und sind doch unvermeidlich, sobald
man bis auf die ersten Gründe zurückgeht, wo die An-
fänge des Wahren und des Falschen oft dicht an einan-
der liegen. Wer sie vermeiden will, entsage dem Ver-
gnügen aus der deutlichern Einsicht, und bleibe näher
bey den Empfindungen, die aber doch sehr oft, und be-
sonders hier, das Mikroskop der Vernunft erfodern, wenn
man recht wissen will, was man siehet.

"Babuc *) sprach mit dem Vornehmsten der Drui-
"den in Scythien, der auf den Groß-Lama zu Tibet
"übel zu sprechen war, weil dieser sich für unfehlbar
"hält. Er versicherte, die Druiden verdienten mehr
"geschätzt zu werden, weil sie es Niemanden übel deu-
"teten, wenn sie von ihren Fehlern unterrichtet würden.
"Wie, sagte der vornehme Geistliche, sind Sie ein
"Ungläubiger? Glauben Sie, daß unsere Druiden
"fehlen? Fehlen zu können und wirklich zu feh-

"len
*) Diese Erzählung stehet in der bekannten schönen
Schrift des ehemaligen dänischen Professors Schnee-
dorf: Babuc,
oder: die Welt, wie sie ist. Eine
Art von Nachahmung von dem Voltairischen Zadic.
1761. ins Deutsche übersetzt.
K 2

und Freyheit.
mit ſammt der Moͤglichkeit des Gegentheils in der phi-
loſophiſchen Sprache gaͤnzlich enthalten wuͤrde.

Jch will damit nicht ſagen, daß man ſich ihrer
nicht mit Nutzen bedienen koͤnne, wenn nur ihre Be-
deutung vorher ſo genau beſtimmt iſt, als ſie es bey all-
gemeinen Begriffen ſeyn muß, die wir zum Grunde
unſerer Schluͤſſe legen wollen.

Die Spekulationen uͤber die gedachten Begriffe
fuͤhren zu Diſtinktionen, die im allgemeinen vorgetra-
gen, fein genug ſind, um als ſachleere Spitzfindigkei-
ten zu erſcheinen, und ſind doch unvermeidlich, ſobald
man bis auf die erſten Gruͤnde zuruͤckgeht, wo die An-
faͤnge des Wahren und des Falſchen oft dicht an einan-
der liegen. Wer ſie vermeiden will, entſage dem Ver-
gnuͤgen aus der deutlichern Einſicht, und bleibe naͤher
bey den Empfindungen, die aber doch ſehr oft, und be-
ſonders hier, das Mikroſkop der Vernunft erfodern, wenn
man recht wiſſen will, was man ſiehet.

Babuc *) ſprach mit dem Vornehmſten der Drui-
„den in Scythien, der auf den Groß-Lama zu Tibet
„uͤbel zu ſprechen war, weil dieſer ſich fuͤr unfehlbar
„haͤlt. Er verſicherte, die Druiden verdienten mehr
„geſchaͤtzt zu werden, weil ſie es Niemanden uͤbel deu-
„teten, wenn ſie von ihren Fehlern unterrichtet wuͤrden.
„Wie, ſagte der vornehme Geiſtliche, ſind Sie ein
„Unglaͤubiger? Glauben Sie, daß unſere Druiden
„fehlen? Fehlen zu koͤnnen und wirklich zu feh-

len
*) Dieſe Erzaͤhlung ſtehet in der bekannten ſchoͤnen
Schrift des ehemaligen daͤniſchen Profeſſors Schnee-
dorf: Babuc,
oder: die Welt, wie ſie iſt. Eine
Art von Nachahmung von dem Voltairiſchen Zadic.
1761. ins Deutſche uͤberſetzt.
K 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0177" n="147"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Freyheit.</hi></fw><lb/>
mit &#x017F;ammt der Mo&#x0364;glichkeit des Gegentheils in der phi-<lb/>
lo&#x017F;ophi&#x017F;chen Sprache ga&#x0364;nzlich enthalten wu&#x0364;rde.</p><lb/>
            <p>Jch will damit nicht &#x017F;agen, daß man &#x017F;ich ihrer<lb/>
nicht mit Nutzen bedienen ko&#x0364;nne, wenn nur ihre Be-<lb/>
deutung vorher &#x017F;o genau be&#x017F;timmt i&#x017F;t, als &#x017F;ie es bey all-<lb/>
gemeinen Begriffen &#x017F;eyn muß, die wir zum Grunde<lb/>
un&#x017F;erer Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e legen wollen.</p><lb/>
            <p>Die Spekulationen u&#x0364;ber die gedachten Begriffe<lb/>
fu&#x0364;hren zu Di&#x017F;tinktionen, die im allgemeinen vorgetra-<lb/>
gen, fein genug &#x017F;ind, um als &#x017F;achleere Spitzfindigkei-<lb/>
ten zu er&#x017F;cheinen, und &#x017F;ind doch unvermeidlich, &#x017F;obald<lb/>
man bis auf die er&#x017F;ten Gru&#x0364;nde zuru&#x0364;ckgeht, wo die An-<lb/>
fa&#x0364;nge des Wahren und des Fal&#x017F;chen oft dicht an einan-<lb/>
der liegen. Wer &#x017F;ie vermeiden will, ent&#x017F;age dem Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen aus der deutlichern Ein&#x017F;icht, und bleibe na&#x0364;her<lb/>
bey den Empfindungen, die aber doch &#x017F;ehr oft, und be-<lb/>
&#x017F;onders hier, das Mikro&#x017F;kop der Vernunft erfodern, wenn<lb/>
man recht wi&#x017F;&#x017F;en will, was man &#x017F;iehet.</p><lb/>
            <p>&#x201E;<hi rendition="#fr">Babuc</hi> <note place="foot" n="*)">Die&#x017F;e Erza&#x0364;hlung &#x017F;tehet in der bekannten &#x017F;cho&#x0364;nen<lb/>
Schrift des ehemaligen da&#x0364;ni&#x017F;chen Profe&#x017F;&#x017F;ors <hi rendition="#fr">Schnee-<lb/>
dorf: Babuc,</hi> oder: <hi rendition="#fr">die Welt, wie &#x017F;ie i&#x017F;t.</hi> Eine<lb/>
Art von Nachahmung von dem Voltairi&#x017F;chen Zadic.<lb/>
1761. ins Deut&#x017F;che u&#x0364;ber&#x017F;etzt.</note> &#x017F;prach mit dem Vornehm&#x017F;ten der Drui-<lb/>
&#x201E;den in Scythien, der auf den Groß-Lama zu Tibet<lb/>
&#x201E;u&#x0364;bel zu &#x017F;prechen war, weil die&#x017F;er &#x017F;ich fu&#x0364;r unfehlbar<lb/>
&#x201E;ha&#x0364;lt. Er ver&#x017F;icherte, die Druiden verdienten mehr<lb/>
&#x201E;ge&#x017F;cha&#x0364;tzt zu werden, weil &#x017F;ie es Niemanden u&#x0364;bel deu-<lb/>
&#x201E;teten, wenn &#x017F;ie von ihren Fehlern unterrichtet wu&#x0364;rden.<lb/>
&#x201E;Wie, &#x017F;agte der vornehme Gei&#x017F;tliche, &#x017F;ind Sie ein<lb/>
&#x201E;Ungla&#x0364;ubiger? Glauben Sie, daß un&#x017F;ere Druiden<lb/>
&#x201E;fehlen? <hi rendition="#fr">Fehlen zu ko&#x0364;nnen</hi> und <hi rendition="#fr">wirklich zu feh-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;<hi rendition="#fr">len</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[147/0177] und Freyheit. mit ſammt der Moͤglichkeit des Gegentheils in der phi- loſophiſchen Sprache gaͤnzlich enthalten wuͤrde. Jch will damit nicht ſagen, daß man ſich ihrer nicht mit Nutzen bedienen koͤnne, wenn nur ihre Be- deutung vorher ſo genau beſtimmt iſt, als ſie es bey all- gemeinen Begriffen ſeyn muß, die wir zum Grunde unſerer Schluͤſſe legen wollen. Die Spekulationen uͤber die gedachten Begriffe fuͤhren zu Diſtinktionen, die im allgemeinen vorgetra- gen, fein genug ſind, um als ſachleere Spitzfindigkei- ten zu erſcheinen, und ſind doch unvermeidlich, ſobald man bis auf die erſten Gruͤnde zuruͤckgeht, wo die An- faͤnge des Wahren und des Falſchen oft dicht an einan- der liegen. Wer ſie vermeiden will, entſage dem Ver- gnuͤgen aus der deutlichern Einſicht, und bleibe naͤher bey den Empfindungen, die aber doch ſehr oft, und be- ſonders hier, das Mikroſkop der Vernunft erfodern, wenn man recht wiſſen will, was man ſiehet. „Babuc *) ſprach mit dem Vornehmſten der Drui- „den in Scythien, der auf den Groß-Lama zu Tibet „uͤbel zu ſprechen war, weil dieſer ſich fuͤr unfehlbar „haͤlt. Er verſicherte, die Druiden verdienten mehr „geſchaͤtzt zu werden, weil ſie es Niemanden uͤbel deu- „teten, wenn ſie von ihren Fehlern unterrichtet wuͤrden. „Wie, ſagte der vornehme Geiſtliche, ſind Sie ein „Unglaͤubiger? Glauben Sie, daß unſere Druiden „fehlen? Fehlen zu koͤnnen und wirklich zu feh- „len *) Dieſe Erzaͤhlung ſtehet in der bekannten ſchoͤnen Schrift des ehemaligen daͤniſchen Profeſſors Schnee- dorf: Babuc, oder: die Welt, wie ſie iſt. Eine Art von Nachahmung von dem Voltairiſchen Zadic. 1761. ins Deutſche uͤberſetzt. K 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/177
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/177>, abgerufen am 14.05.2024.