Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
sich, seiner vorzüglichen Erhöhung der Erkenntnißkraft
wegen, auf die oberste Staffel der Menschen setzt. Wir
mögen Stufenfolgen unter den Menschen annehmen,
die durch die Größe der Menschheit charakterisirt| wer-
den; aber jede Klasse behält doch etwas eigenes auch an
Vollkommenheit. Die höhern fassen eine größere
Summe von menschlichen Realitäten in sich. Nur
keine hat alles Gute beysammen, was die niedrigern
besitzen.

Welch ein Projekt würde es seyn, der innern Mensch-
heit durch alle ihre abstechende äußere Zustände nachzu-
gehen, und die Empfindungen, Geisteserhöhungen, Ge-
müthsfähigkeiten und Willenskräfte aufzusuchen, die
in jedem derselben vorzüglich entwickelt werden; und
dann bey jeder das Unterscheidende in den Graden der
Jntension, der Ausdehnung und Dauer der Vermö-
gen, der leidentlichen und thätigen, und in ihren dar-
aus entspringenden Beziehungen auf einander zu beob-
achten. Die Zukunft kann vielleicht eine so reizende voll-
ständige Geschichte der Menschheit erwarten, und eine
Moral, die auf diese gegründet ist; wenn nicht etwan
der jetzige Eifer in der Untersuchung des Menschen nach-
lassen sollte. Wer steht dafür, daß nicht auch das
Studium des Menschen das Schicksal der Modestudien
haben werde? Der Verfasser des philosophischen
Bauers
und des philosophischen Kaufmanns
hat zwar nicht die Absicht gehabt, den Geist dieser bei-
den Stände, davon Cicero den erstern für die beste
Schule der Weisheit, nächst dem Studium der Philo-
sophie, erklärte, zu zeichnen; aber er hat sehr viele von
den wichtigsten Grundzügen desselben scharf genug beob-
achtet. So ein Unternehmen ist nicht leicht. Wer
nicht, außer einem feinen Beobachtungsgeist, Menschen-
kenntniß und philosophischen Scharfsinn besitzet, und in
einer Lage ist, worinn ihm das Jnnere eines Standes

vor

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſich, ſeiner vorzuͤglichen Erhoͤhung der Erkenntnißkraft
wegen, auf die oberſte Staffel der Menſchen ſetzt. Wir
moͤgen Stufenfolgen unter den Menſchen annehmen,
die durch die Groͤße der Menſchheit charakteriſirt| wer-
den; aber jede Klaſſe behaͤlt doch etwas eigenes auch an
Vollkommenheit. Die hoͤhern faſſen eine groͤßere
Summe von menſchlichen Realitaͤten in ſich. Nur
keine hat alles Gute beyſammen, was die niedrigern
beſitzen.

Welch ein Projekt wuͤrde es ſeyn, der innern Menſch-
heit durch alle ihre abſtechende aͤußere Zuſtaͤnde nachzu-
gehen, und die Empfindungen, Geiſteserhoͤhungen, Ge-
muͤthsfaͤhigkeiten und Willenskraͤfte aufzuſuchen, die
in jedem derſelben vorzuͤglich entwickelt werden; und
dann bey jeder das Unterſcheidende in den Graden der
Jntenſion, der Ausdehnung und Dauer der Vermoͤ-
gen, der leidentlichen und thaͤtigen, und in ihren dar-
aus entſpringenden Beziehungen auf einander zu beob-
achten. Die Zukunft kann vielleicht eine ſo reizende voll-
ſtaͤndige Geſchichte der Menſchheit erwarten, und eine
Moral, die auf dieſe gegruͤndet iſt; wenn nicht etwan
der jetzige Eifer in der Unterſuchung des Menſchen nach-
laſſen ſollte. Wer ſteht dafuͤr, daß nicht auch das
Studium des Menſchen das Schickſal der Modeſtudien
haben werde? Der Verfaſſer des philoſophiſchen
Bauers
und des philoſophiſchen Kaufmanns
hat zwar nicht die Abſicht gehabt, den Geiſt dieſer bei-
den Staͤnde, davon Cicero den erſtern fuͤr die beſte
Schule der Weisheit, naͤchſt dem Studium der Philo-
ſophie, erklaͤrte, zu zeichnen; aber er hat ſehr viele von
den wichtigſten Grundzuͤgen deſſelben ſcharf genug beob-
achtet. So ein Unternehmen iſt nicht leicht. Wer
nicht, außer einem feinen Beobachtungsgeiſt, Menſchen-
kenntniß und philoſophiſchen Scharfſinn beſitzet, und in
einer Lage iſt, worinn ihm das Jnnere eines Standes

vor
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0630" n="600"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
&#x017F;ich, &#x017F;einer vorzu&#x0364;glichen Erho&#x0364;hung der Erkenntnißkraft<lb/>
wegen, auf die ober&#x017F;te Staffel der Men&#x017F;chen &#x017F;etzt. Wir<lb/>
mo&#x0364;gen Stufenfolgen unter den Men&#x017F;chen annehmen,<lb/>
die durch die Gro&#x0364;ße der Men&#x017F;chheit charakteri&#x017F;irt| wer-<lb/>
den; aber jede Kla&#x017F;&#x017F;e beha&#x0364;lt doch etwas eigenes auch an<lb/>
Vollkommenheit. Die ho&#x0364;hern fa&#x017F;&#x017F;en eine gro&#x0364;ßere<lb/>
Summe von men&#x017F;chlichen Realita&#x0364;ten in &#x017F;ich. Nur<lb/>
keine hat alles Gute bey&#x017F;ammen, was die niedrigern<lb/>
be&#x017F;itzen.</p><lb/>
              <p>Welch ein Projekt wu&#x0364;rde es &#x017F;eyn, der innern Men&#x017F;ch-<lb/>
heit durch alle ihre ab&#x017F;techende a&#x0364;ußere Zu&#x017F;ta&#x0364;nde nachzu-<lb/>
gehen, und die Empfindungen, Gei&#x017F;teserho&#x0364;hungen, Ge-<lb/>
mu&#x0364;thsfa&#x0364;higkeiten und Willenskra&#x0364;fte aufzu&#x017F;uchen, die<lb/>
in jedem der&#x017F;elben vorzu&#x0364;glich entwickelt werden; und<lb/>
dann bey jeder das Unter&#x017F;cheidende in den Graden der<lb/>
Jnten&#x017F;ion, der Ausdehnung und Dauer der Vermo&#x0364;-<lb/>
gen, der leidentlichen und tha&#x0364;tigen, und in ihren dar-<lb/>
aus ent&#x017F;pringenden Beziehungen auf einander zu beob-<lb/>
achten. Die Zukunft kann vielleicht eine &#x017F;o reizende voll-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndige Ge&#x017F;chichte der Men&#x017F;chheit erwarten, und eine<lb/>
Moral, die auf die&#x017F;e gegru&#x0364;ndet i&#x017F;t; wenn nicht etwan<lb/>
der jetzige Eifer in der Unter&#x017F;uchung des Men&#x017F;chen nach-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ollte. Wer &#x017F;teht dafu&#x0364;r, daß nicht auch das<lb/>
Studium des Men&#x017F;chen das Schick&#x017F;al der Mode&#x017F;tudien<lb/>
haben werde? Der Verfa&#x017F;&#x017F;er des <hi rendition="#fr">philo&#x017F;ophi&#x017F;chen<lb/>
Bauers</hi> und des <hi rendition="#fr">philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Kaufmanns</hi><lb/>
hat zwar nicht die Ab&#x017F;icht gehabt, den Gei&#x017F;t die&#x017F;er bei-<lb/>
den Sta&#x0364;nde, davon Cicero den er&#x017F;tern fu&#x0364;r die be&#x017F;te<lb/>
Schule der Weisheit, na&#x0364;ch&#x017F;t dem Studium der Philo-<lb/>
&#x017F;ophie, erkla&#x0364;rte, zu zeichnen; aber er hat &#x017F;ehr viele von<lb/>
den wichtig&#x017F;ten Grundzu&#x0364;gen de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;charf genug beob-<lb/>
achtet. So ein Unternehmen i&#x017F;t nicht leicht. Wer<lb/>
nicht, außer einem feinen Beobachtungsgei&#x017F;t, Men&#x017F;chen-<lb/>
kenntniß und philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Scharf&#x017F;inn be&#x017F;itzet, und in<lb/>
einer Lage i&#x017F;t, worinn ihm das Jnnere eines Standes<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">vor</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[600/0630] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ſich, ſeiner vorzuͤglichen Erhoͤhung der Erkenntnißkraft wegen, auf die oberſte Staffel der Menſchen ſetzt. Wir moͤgen Stufenfolgen unter den Menſchen annehmen, die durch die Groͤße der Menſchheit charakteriſirt| wer- den; aber jede Klaſſe behaͤlt doch etwas eigenes auch an Vollkommenheit. Die hoͤhern faſſen eine groͤßere Summe von menſchlichen Realitaͤten in ſich. Nur keine hat alles Gute beyſammen, was die niedrigern beſitzen. Welch ein Projekt wuͤrde es ſeyn, der innern Menſch- heit durch alle ihre abſtechende aͤußere Zuſtaͤnde nachzu- gehen, und die Empfindungen, Geiſteserhoͤhungen, Ge- muͤthsfaͤhigkeiten und Willenskraͤfte aufzuſuchen, die in jedem derſelben vorzuͤglich entwickelt werden; und dann bey jeder das Unterſcheidende in den Graden der Jntenſion, der Ausdehnung und Dauer der Vermoͤ- gen, der leidentlichen und thaͤtigen, und in ihren dar- aus entſpringenden Beziehungen auf einander zu beob- achten. Die Zukunft kann vielleicht eine ſo reizende voll- ſtaͤndige Geſchichte der Menſchheit erwarten, und eine Moral, die auf dieſe gegruͤndet iſt; wenn nicht etwan der jetzige Eifer in der Unterſuchung des Menſchen nach- laſſen ſollte. Wer ſteht dafuͤr, daß nicht auch das Studium des Menſchen das Schickſal der Modeſtudien haben werde? Der Verfaſſer des philoſophiſchen Bauers und des philoſophiſchen Kaufmanns hat zwar nicht die Abſicht gehabt, den Geiſt dieſer bei- den Staͤnde, davon Cicero den erſtern fuͤr die beſte Schule der Weisheit, naͤchſt dem Studium der Philo- ſophie, erklaͤrte, zu zeichnen; aber er hat ſehr viele von den wichtigſten Grundzuͤgen deſſelben ſcharf genug beob- achtet. So ein Unternehmen iſt nicht leicht. Wer nicht, außer einem feinen Beobachtungsgeiſt, Menſchen- kenntniß und philoſophiſchen Scharfſinn beſitzet, und in einer Lage iſt, worinn ihm das Jnnere eines Standes vor

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/630
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 600. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/630>, abgerufen am 21.05.2024.