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Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Morgenroth streut Rosen." Gibt es etwas Dümmeres? "Die Sonne taucht sich in das Meer." Fratzen! "Der Wein glüht purpurn." Narrenspossen! "Der Morgen erwacht." Es giebt keinen Morgen; wie kann er schlafen? Es ist ja Nichts, als die Stunde, wenn die Sonne aufgeht. Verflucht! Die Sonne geht ja nicht auf; auch das ist ja schon Unsinn und Poesie. O dürft' ich nur einmal über die Sprache her und sie so recht säubern und ausfegen! O verdammt! Ausfegen! Man kann in dieser lügenden Welt es nicht lassen, Unsinn zu sprechen!

Laßt's Euch nicht irren, ehrlicher Mann, sagte Eulenböck, Eure Tugend meint es gut, und wenn Ihr die Sache anders anseht, als ich, so trinkt Ihr wenigstens denselben Wein, und fast eben so viel, als ich selber. Die That vereinigt uns, wenn uns das System aus einander führt. Wer versteht sich heut zu Tage? Davon ist auch gar nicht die Rede mehr. Ich wollte nur noch bemerken, wenn es auch mit dem Vorigen gar nicht zusammen hängt, daß mir die Art, wie Menschen und Aerzte den Nahrungsproceß und die sogenannte Assimilation ansehen, höchst einfältig vorkommt. Der Eichenbaum wird aus feinem Samenkorne eine Eiche, und die Feige bringt den Feigenbaum hervor, und wenn sie auch Luft, Wasser und Erde bedürfen, so sind es doch diese Elemente nicht eigentlich, aus denen sie erwachsen. So erweckt die Nahrung in uns nur die Kräfte und den Wachsthum, bringt sie aber nicht hervor; sie giebt die Möglichkeit, aber nicht die Sache,

Morgenroth streut Rosen.“ Gibt es etwas Dümmeres? „Die Sonne taucht sich in das Meer.“ Fratzen! „Der Wein glüht purpurn.“ Narrenspossen! „Der Morgen erwacht.“ Es giebt keinen Morgen; wie kann er schlafen? Es ist ja Nichts, als die Stunde, wenn die Sonne aufgeht. Verflucht! Die Sonne geht ja nicht auf; auch das ist ja schon Unsinn und Poesie. O dürft' ich nur einmal über die Sprache her und sie so recht säubern und ausfegen! O verdammt! Ausfegen! Man kann in dieser lügenden Welt es nicht lassen, Unsinn zu sprechen!

Laßt's Euch nicht irren, ehrlicher Mann, sagte Eulenböck, Eure Tugend meint es gut, und wenn Ihr die Sache anders anseht, als ich, so trinkt Ihr wenigstens denselben Wein, und fast eben so viel, als ich selber. Die That vereinigt uns, wenn uns das System aus einander führt. Wer versteht sich heut zu Tage? Davon ist auch gar nicht die Rede mehr. Ich wollte nur noch bemerken, wenn es auch mit dem Vorigen gar nicht zusammen hängt, daß mir die Art, wie Menschen und Aerzte den Nahrungsproceß und die sogenannte Assimilation ansehen, höchst einfältig vorkommt. Der Eichenbaum wird aus feinem Samenkorne eine Eiche, und die Feige bringt den Feigenbaum hervor, und wenn sie auch Luft, Wasser und Erde bedürfen, so sind es doch diese Elemente nicht eigentlich, aus denen sie erwachsen. So erweckt die Nahrung in uns nur die Kräfte und den Wachsthum, bringt sie aber nicht hervor; sie giebt die Möglichkeit, aber nicht die Sache,

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_gemaelde_1910/110>, abgerufen am 05.05.2024.