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Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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unmittelbar zu unsern Füßen aller dieser Jammer, dasselbe gräuliche Schauspiel sich entwickelt, nur langsamer und desto grausamer? Aber wir sehen aus unsern Concerten und Festen und aus dem sichern Gewahrsam des Wohlstandes nicht in diesen Abgrund hinein, wo die Gestalten des Elends sich in tausend fürchterlichen Gruppen, wie in Dante's Gebilden, zermartern und verzehren und gar nicht einmal mehr zu uns empor zu schauen wagen, weil sie schon wissen, welchem kalten Blick sie begegnen, wenn ihr Geschrei uns zu Zeiten aus den Betäubungen unsrer kalten Ruhe weckt.

Diese Uebertreibungen, sagte der alte Eisenschlicht, sind jugendlich. Ich behaupte immer noch, der wirklich gute Bürger, der echte Patriot soll sich von augenblicklicher Rührung nicht hinreißen lassen, die Bettelei zu unterstützen. Er theile jenen wohlthätigen Anstalten mit, so viel er mit Bequemlichkeit entbehren kann; aber vergeude nicht seine geringen Miitel, die auch hierin der Aufsicht des Staates zu Gute kommen sollen. Denn was thut er im entgegengesetzten Fall? Er befördert durch seine Weichlichkeit, ja ich möchte es fast wollüstigen Kitzel des Herzens nennen, Betrug, Faulheit, Unverschämtheit, und entzieht das Wenige der wahren Armuth, die er doch nicht immer antreffen oder erkennen kann. Wenn wir aber auch jene übertriebene Schilderung des Elendes als richtig anerkennen wollten, was kann der Einzelne auch selbst in diesem Falle Gutes stiften? Ist er denn im Stande, die Lage des Ver-

unmittelbar zu unsern Füßen aller dieser Jammer, dasselbe gräuliche Schauspiel sich entwickelt, nur langsamer und desto grausamer? Aber wir sehen aus unsern Concerten und Festen und aus dem sichern Gewahrsam des Wohlstandes nicht in diesen Abgrund hinein, wo die Gestalten des Elends sich in tausend fürchterlichen Gruppen, wie in Dante's Gebilden, zermartern und verzehren und gar nicht einmal mehr zu uns empor zu schauen wagen, weil sie schon wissen, welchem kalten Blick sie begegnen, wenn ihr Geschrei uns zu Zeiten aus den Betäubungen unsrer kalten Ruhe weckt.

Diese Uebertreibungen, sagte der alte Eisenschlicht, sind jugendlich. Ich behaupte immer noch, der wirklich gute Bürger, der echte Patriot soll sich von augenblicklicher Rührung nicht hinreißen lassen, die Bettelei zu unterstützen. Er theile jenen wohlthätigen Anstalten mit, so viel er mit Bequemlichkeit entbehren kann; aber vergeude nicht seine geringen Miitel, die auch hierin der Aufsicht des Staates zu Gute kommen sollen. Denn was thut er im entgegengesetzten Fall? Er befördert durch seine Weichlichkeit, ja ich möchte es fast wollüstigen Kitzel des Herzens nennen, Betrug, Faulheit, Unverschämtheit, und entzieht das Wenige der wahren Armuth, die er doch nicht immer antreffen oder erkennen kann. Wenn wir aber auch jene übertriebene Schilderung des Elendes als richtig anerkennen wollten, was kann der Einzelne auch selbst in diesem Falle Gutes stiften? Ist er denn im Stande, die Lage des Ver-

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[0074] unmittelbar zu unsern Füßen aller dieser Jammer, dasselbe gräuliche Schauspiel sich entwickelt, nur langsamer und desto grausamer? Aber wir sehen aus unsern Concerten und Festen und aus dem sichern Gewahrsam des Wohlstandes nicht in diesen Abgrund hinein, wo die Gestalten des Elends sich in tausend fürchterlichen Gruppen, wie in Dante's Gebilden, zermartern und verzehren und gar nicht einmal mehr zu uns empor zu schauen wagen, weil sie schon wissen, welchem kalten Blick sie begegnen, wenn ihr Geschrei uns zu Zeiten aus den Betäubungen unsrer kalten Ruhe weckt. Diese Uebertreibungen, sagte der alte Eisenschlicht, sind jugendlich. Ich behaupte immer noch, der wirklich gute Bürger, der echte Patriot soll sich von augenblicklicher Rührung nicht hinreißen lassen, die Bettelei zu unterstützen. Er theile jenen wohlthätigen Anstalten mit, so viel er mit Bequemlichkeit entbehren kann; aber vergeude nicht seine geringen Miitel, die auch hierin der Aufsicht des Staates zu Gute kommen sollen. Denn was thut er im entgegengesetzten Fall? Er befördert durch seine Weichlichkeit, ja ich möchte es fast wollüstigen Kitzel des Herzens nennen, Betrug, Faulheit, Unverschämtheit, und entzieht das Wenige der wahren Armuth, die er doch nicht immer antreffen oder erkennen kann. Wenn wir aber auch jene übertriebene Schilderung des Elendes als richtig anerkennen wollten, was kann der Einzelne auch selbst in diesem Falle Gutes stiften? Ist er denn im Stande, die Lage des Ver-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:27:02Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_gemaelde_1910/74>, abgerufen am 02.05.2024.