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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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klagst Du über die Verschwindung jener liebli-
chen Phantome, an die einst die Menschheit so
fest hing, Du glaubst, die ganze Menschheit ha-
be soviel dadurch verlohren, als Du in einer
elegischen Stimmung zu verliehren glaubst. --
Sollten aber die Menschen seit so vielen Jahr-
hunderten gar nichts gewonnen haben? -- Sie
sind aus süßen Träumen geweckt und die ersten
Empfindungen des Erwachens können freilich
nüchtern und unangenehm seyn, -- aber willst
Du Dir darum einen Schlaf zurückwünschen,
der doch nur Schlaf, nur Mittel war, Dich zur
Thätigkeit vorzubereiten? Im Kindesalter der
Welt unterwiesen Weisere spielend die Mensch-
heit, mit der Phantasie im Bunde traten auf
ihr Geheiß neugeschaffene Traumwelten hervor,
Dichter und Künstler bauten das Gebäude aus
und verschönerten es mit verehrender Liebe. --
Das Kind aber ward zum Jünglinge, der Jüng-
ling näherte sich dem Manne, die Zeit stürzte
die Grundfesten des schönen Pallastes, dessen
Trümmern Du bedauerst: man dachte ohne Bil-
der, man liebte die Tugend ohne Furcht der
Strafe, ohne Hofnung der Belohnung; wären
die Jahrhunderte seitdem gleichmäßig fortge-

klagſt Du uͤber die Verſchwindung jener liebli-
chen Phantome, an die einſt die Menſchheit ſo
feſt hing, Du glaubſt, die ganze Menſchheit ha-
be ſoviel dadurch verlohren, als Du in einer
elegiſchen Stimmung zu verliehren glaubſt. —
Sollten aber die Menſchen ſeit ſo vielen Jahr-
hunderten gar nichts gewonnen haben? — Sie
ſind aus ſuͤßen Traͤumen geweckt und die erſten
Empfindungen des Erwachens koͤnnen freilich
nuͤchtern und unangenehm ſeyn, — aber willſt
Du Dir darum einen Schlaf zuruͤckwuͤnſchen,
der doch nur Schlaf, nur Mittel war, Dich zur
Thaͤtigkeit vorzubereiten? Im Kindesalter der
Welt unterwieſen Weiſere ſpielend die Menſch-
heit, mit der Phantaſie im Bunde traten auf
ihr Geheiß neugeſchaffene Traumwelten hervor,
Dichter und Kuͤnſtler bauten das Gebaͤude aus
und verſchoͤnerten es mit verehrender Liebe. —
Das Kind aber ward zum Juͤnglinge, der Juͤng-
ling naͤherte ſich dem Manne, die Zeit ſtuͤrzte
die Grundfeſten des ſchoͤnen Pallaſtes, deſſen
Truͤmmern Du bedauerſt: man dachte ohne Bil-
der, man liebte die Tugend ohne Furcht der
Strafe, ohne Hofnung der Belohnung; waͤren
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[101[99]/0109] klagſt Du uͤber die Verſchwindung jener liebli- chen Phantome, an die einſt die Menſchheit ſo feſt hing, Du glaubſt, die ganze Menſchheit ha- be ſoviel dadurch verlohren, als Du in einer elegiſchen Stimmung zu verliehren glaubſt. — Sollten aber die Menſchen ſeit ſo vielen Jahr- hunderten gar nichts gewonnen haben? — Sie ſind aus ſuͤßen Traͤumen geweckt und die erſten Empfindungen des Erwachens koͤnnen freilich nuͤchtern und unangenehm ſeyn, — aber willſt Du Dir darum einen Schlaf zuruͤckwuͤnſchen, der doch nur Schlaf, nur Mittel war, Dich zur Thaͤtigkeit vorzubereiten? Im Kindesalter der Welt unterwieſen Weiſere ſpielend die Menſch- heit, mit der Phantaſie im Bunde traten auf ihr Geheiß neugeſchaffene Traumwelten hervor, Dichter und Kuͤnſtler bauten das Gebaͤude aus und verſchoͤnerten es mit verehrender Liebe. — Das Kind aber ward zum Juͤnglinge, der Juͤng- ling naͤherte ſich dem Manne, die Zeit ſtuͤrzte die Grundfeſten des ſchoͤnen Pallaſtes, deſſen Truͤmmern Du bedauerſt: man dachte ohne Bil- der, man liebte die Tugend ohne Furcht der Strafe, ohne Hofnung der Belohnung; waͤren die Jahrhunderte ſeitdem gleichmaͤßig fortge-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 101[99]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/109>, abgerufen am 26.04.2024.