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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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25.
Rosa an William Lovell.


Wie sehr haben Sie in Ihrem Briefe aus
meinem Herzen gesprochen! -- Ach Freund, wie
wenig Menschen verstehen es zu leben, sie ziehn
an ihrem Daseyn wie an einer Kette, und zäh-
len mühsam und gähnend die Ringe bis zum
letzten. -- Wir, William, wollen an Blumen
ziehen und auch noch bei der letzten lächeln
und uns von ihrem Dufte erquicken lassen.

Mögen die Dinge außer mir seyn, wie sie
wollen; ein buntes Gewühl wird mir vorüber-
gezogen, ich greife mit dreister Hand hinein und
behalte mir, was mir gefällt, ehe der glückliche
Augenblick vorüber ist. --

Ja, Lovell, lassen Sie uns das Leben so ge-
nießen, wie man die letzten schönen Tage des
Herbstes genießt; keiner kömmt zurück, man
darf keinem folgenden vertrauen. Ist der nicht
ein Thor, der in seinem dunkeln Zimmer
sitzen bleibt und Wahrscheinlichkeit und Mög-
lichkeit berechnet? Der Sonnenschein spielt

25.
Roſa an William Lovell.


Wie ſehr haben Sie in Ihrem Briefe aus
meinem Herzen geſprochen! — Ach Freund, wie
wenig Menſchen verſtehen es zu leben, ſie ziehn
an ihrem Daſeyn wie an einer Kette, und zaͤh-
len muͤhſam und gaͤhnend die Ringe bis zum
letzten. — Wir, William, wollen an Blumen
ziehen und auch noch bei der letzten laͤcheln
und uns von ihrem Dufte erquicken laſſen.

Moͤgen die Dinge außer mir ſeyn, wie ſie
wollen; ein buntes Gewuͤhl wird mir voruͤber-
gezogen, ich greife mit dreiſter Hand hinein und
behalte mir, was mir gefaͤllt, ehe der gluͤckliche
Augenblick voruͤber iſt. —

Ja, Lovell, laſſen Sie uns das Leben ſo ge-
nießen, wie man die letzten ſchoͤnen Tage des
Herbſtes genießt; keiner koͤmmt zuruͤck, man
darf keinem folgenden vertrauen. Iſt der nicht
ein Thor, der in ſeinem dunkeln Zimmer
ſitzen bleibt und Wahrſcheinlichkeit und Moͤg-
lichkeit berechnet? Der Sonnenſchein ſpielt

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[316[314]/0324] 25. Roſa an William Lovell. Neapel. Wie ſehr haben Sie in Ihrem Briefe aus meinem Herzen geſprochen! — Ach Freund, wie wenig Menſchen verſtehen es zu leben, ſie ziehn an ihrem Daſeyn wie an einer Kette, und zaͤh- len muͤhſam und gaͤhnend die Ringe bis zum letzten. — Wir, William, wollen an Blumen ziehen und auch noch bei der letzten laͤcheln und uns von ihrem Dufte erquicken laſſen. Moͤgen die Dinge außer mir ſeyn, wie ſie wollen; ein buntes Gewuͤhl wird mir voruͤber- gezogen, ich greife mit dreiſter Hand hinein und behalte mir, was mir gefaͤllt, ehe der gluͤckliche Augenblick voruͤber iſt. — Ja, Lovell, laſſen Sie uns das Leben ſo ge- nießen, wie man die letzten ſchoͤnen Tage des Herbſtes genießt; keiner koͤmmt zuruͤck, man darf keinem folgenden vertrauen. Iſt der nicht ein Thor, der in ſeinem dunkeln Zimmer ſitzen bleibt und Wahrſcheinlichkeit und Moͤg- lichkeit berechnet? Der Sonnenſchein ſpielt

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 316[314]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/324>, abgerufen am 26.04.2024.