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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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auf den geistigen Menschen überträgt; -- was
sind diese Worte mehr als Worte? -- Unser
Verstand findet allenthalben in der Natur die
Spuren des göttlichen Fingers, allenthalben
Ordnung, und die Elemente freundlich nebenein-
ander, -- er versuche es doch einmahl, die Un-
ordnung und das Chaos zu denken, oder in der
Zerstörung nur den Ruin zu finden! -- Es ist
ihm unmöglich. Unser Geist ist an diese Be-
dingung geknüpft; in unserm Gehirne regiert
der Gedanke der Ordnung, und wir finden sie
auch außer uns allenthalben; ein Licht, das
durch die Laterne den Kerzenschimmer in die
finstere Nacht hineinwirft.

Es ist Mitternacht und vom Thurme her
schlägt es zwölfe. Wenn ich mir diese Uhr
beseelt und verständig vorstelle, so müßte sie
nothwendig in der Zeit, die sie nach willkühr-
lichen Abtheilungen mißt, diese Abtheilungen
wiederfinden und nicht ahnden, daß es Ein gro-
ßer, göttlicher, ungemessener Strohm ist, der
vorübersaust, kühn und herrlich und auch nicht
Eine Spur der kläglichen Eintheilung trägt.

Willkommen denn wüstes, wildes, erfreuliches
Chaos! -- Du machst mich groß und frei,

auf den geiſtigen Menſchen uͤbertraͤgt; — was
ſind dieſe Worte mehr als Worte? — Unſer
Verſtand findet allenthalben in der Natur die
Spuren des goͤttlichen Fingers, allenthalben
Ordnung, und die Elemente freundlich nebenein-
ander, — er verſuche es doch einmahl, die Un-
ordnung und das Chaos zu denken, oder in der
Zerſtoͤrung nur den Ruin zu finden! — Es iſt
ihm unmoͤglich. Unſer Geiſt iſt an dieſe Be-
dingung geknuͤpft; in unſerm Gehirne regiert
der Gedanke der Ordnung, und wir finden ſie
auch außer uns allenthalben; ein Licht, das
durch die Laterne den Kerzenſchimmer in die
finſtere Nacht hineinwirft.

Es iſt Mitternacht und vom Thurme her
ſchlaͤgt es zwoͤlfe. Wenn ich mir dieſe Uhr
beſeelt und verſtaͤndig vorſtelle, ſo muͤßte ſie
nothwendig in der Zeit, die ſie nach willkuͤhr-
lichen Abtheilungen mißt, dieſe Abtheilungen
wiederfinden und nicht ahnden, daß es Ein gro-
ßer, goͤttlicher, ungemeſſener Strohm iſt, der
voruͤberſauſt, kuͤhn und herrlich und auch nicht
Eine Spur der klaͤglichen Eintheilung traͤgt.

Willkommen denn wuͤſtes, wildes, erfreuliches
Chaos! — Du machſt mich groß und frei,

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[318[316]/0326] auf den geiſtigen Menſchen uͤbertraͤgt; — was ſind dieſe Worte mehr als Worte? — Unſer Verſtand findet allenthalben in der Natur die Spuren des goͤttlichen Fingers, allenthalben Ordnung, und die Elemente freundlich nebenein- ander, — er verſuche es doch einmahl, die Un- ordnung und das Chaos zu denken, oder in der Zerſtoͤrung nur den Ruin zu finden! — Es iſt ihm unmoͤglich. Unſer Geiſt iſt an dieſe Be- dingung geknuͤpft; in unſerm Gehirne regiert der Gedanke der Ordnung, und wir finden ſie auch außer uns allenthalben; ein Licht, das durch die Laterne den Kerzenſchimmer in die finſtere Nacht hineinwirft. Es iſt Mitternacht und vom Thurme her ſchlaͤgt es zwoͤlfe. Wenn ich mir dieſe Uhr beſeelt und verſtaͤndig vorſtelle, ſo muͤßte ſie nothwendig in der Zeit, die ſie nach willkuͤhr- lichen Abtheilungen mißt, dieſe Abtheilungen wiederfinden und nicht ahnden, daß es Ein gro- ßer, goͤttlicher, ungemeſſener Strohm iſt, der voruͤberſauſt, kuͤhn und herrlich und auch nicht Eine Spur der klaͤglichen Eintheilung traͤgt. Willkommen denn wuͤſtes, wildes, erfreuliches Chaos! — Du machſt mich groß und frei,

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 318[316]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/326>, abgerufen am 27.04.2024.