Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

ist keineswegs verächtlich und kann es nicht
seyn, -- und doch streben wir unaufhörlich, sie
uns selber abzuleugnen und sie mit unserer Ver-
nunft in eins zu schmelzen, um nur in jedem der
vorüberfliegenden Gefühle uns selbst achten zu
können. Denn freilich ist nichts als Sinnlich-
keit das erste bewegende Rad in unserer Ma-
schine, sie wälzt unser Daseyn von der Stelle,
und macht es froh und lebendig; ein Hebel,
der in uns hineinreicht, und mit kleinen Gewich-
ten große Lasten zieht. Alles, was wir als
Schön und Edel träumen, greift hier hinein,
Sinnlichkeit und Wollust sind der Geist der
Musik, der Mahlerei und aller Künste, alle
Wünsche der Menschen fliegen um diesen Pol,
wie Mücken um das brennende Licht. Schön-
heitssinn und Kunstgefühl sind nur andere Dia-
lekte und Aussprachen, sie bezeichnen nichts wei-
ter, als den Trieb des Menschen zur Wollust;
an jeder reizenden Form, an jedem Bilde des
Dichters weidet sich das trunkene Auge, die
Gemählde, vor denen der Entzückte niederkniet,
sind nichts als Einleitungen zum Sinnengenuß,
jeder Klang, jedes schöngeworfene Gewand winkt
ihn dorthin; daher sind Boccaz und Ariost

iſt keineswegs veraͤchtlich und kann es nicht
ſeyn, — und doch ſtreben wir unaufhoͤrlich, ſie
uns ſelber abzuleugnen und ſie mit unſerer Ver-
nunft in eins zu ſchmelzen, um nur in jedem der
voruͤberfliegenden Gefuͤhle uns ſelbſt achten zu
koͤnnen. Denn freilich iſt nichts als Sinnlich-
keit das erſte bewegende Rad in unſerer Ma-
ſchine, ſie waͤlzt unſer Daſeyn von der Stelle,
und macht es froh und lebendig; ein Hebel,
der in uns hineinreicht, und mit kleinen Gewich-
ten große Laſten zieht. Alles, was wir als
Schoͤn und Edel traͤumen, greift hier hinein,
Sinnlichkeit und Wolluſt ſind der Geiſt der
Muſik, der Mahlerei und aller Kuͤnſte, alle
Wuͤnſche der Menſchen fliegen um dieſen Pol,
wie Muͤcken um das brennende Licht. Schoͤn-
heitsſinn und Kunſtgefuͤhl ſind nur andere Dia-
lekte und Ausſprachen, ſie bezeichnen nichts wei-
ter, als den Trieb des Menſchen zur Wolluſt;
an jeder reizenden Form, an jedem Bilde des
Dichters weidet ſich das trunkene Auge, die
Gemaͤhlde, vor denen der Entzuͤckte niederkniet,
ſind nichts als Einleitungen zum Sinnengenuß,
jeder Klang, jedes ſchoͤngeworfene Gewand winkt
ihn dorthin; daher ſind Boccaz und Arioſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0024" n="18"/>
i&#x017F;t keineswegs vera&#x0364;chtlich und kann es nicht<lb/>
&#x017F;eyn, &#x2014; und doch &#x017F;treben wir unaufho&#x0364;rlich, &#x017F;ie<lb/>
uns &#x017F;elber abzuleugnen und &#x017F;ie mit un&#x017F;erer Ver-<lb/>
nunft in eins zu &#x017F;chmelzen, um nur in jedem der<lb/>
voru&#x0364;berfliegenden Gefu&#x0364;hle uns &#x017F;elb&#x017F;t achten zu<lb/>
ko&#x0364;nnen. Denn freilich i&#x017F;t nichts als Sinnlich-<lb/>
keit das er&#x017F;te bewegende Rad in un&#x017F;erer Ma-<lb/>
&#x017F;chine, &#x017F;ie wa&#x0364;lzt un&#x017F;er Da&#x017F;eyn von der Stelle,<lb/>
und macht es froh und lebendig; ein Hebel,<lb/>
der in uns hineinreicht, und mit kleinen Gewich-<lb/>
ten große La&#x017F;ten zieht. Alles, was wir als<lb/>
Scho&#x0364;n und Edel tra&#x0364;umen, greift hier hinein,<lb/>
Sinnlichkeit und Wollu&#x017F;t &#x017F;ind der Gei&#x017F;t der<lb/>
Mu&#x017F;ik, der Mahlerei und aller Ku&#x0364;n&#x017F;te, alle<lb/>
Wu&#x0364;n&#x017F;che der Men&#x017F;chen fliegen um die&#x017F;en Pol,<lb/>
wie Mu&#x0364;cken um das brennende Licht. Scho&#x0364;n-<lb/>
heits&#x017F;inn und Kun&#x017F;tgefu&#x0364;hl &#x017F;ind nur andere Dia-<lb/>
lekte und Aus&#x017F;prachen, &#x017F;ie bezeichnen nichts wei-<lb/>
ter, als den Trieb des Men&#x017F;chen zur Wollu&#x017F;t;<lb/>
an jeder reizenden Form, an jedem Bilde des<lb/>
Dichters weidet &#x017F;ich das trunkene Auge, die<lb/>
Gema&#x0364;hlde, vor denen der Entzu&#x0364;ckte niederkniet,<lb/>
&#x017F;ind nichts als Einleitungen zum Sinnengenuß,<lb/>
jeder Klang, jedes &#x017F;cho&#x0364;ngeworfene Gewand winkt<lb/>
ihn dorthin; daher &#x017F;ind <hi rendition="#g">Boccaz</hi> und <hi rendition="#g">Ario&#x017F;t</hi><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0024] iſt keineswegs veraͤchtlich und kann es nicht ſeyn, — und doch ſtreben wir unaufhoͤrlich, ſie uns ſelber abzuleugnen und ſie mit unſerer Ver- nunft in eins zu ſchmelzen, um nur in jedem der voruͤberfliegenden Gefuͤhle uns ſelbſt achten zu koͤnnen. Denn freilich iſt nichts als Sinnlich- keit das erſte bewegende Rad in unſerer Ma- ſchine, ſie waͤlzt unſer Daſeyn von der Stelle, und macht es froh und lebendig; ein Hebel, der in uns hineinreicht, und mit kleinen Gewich- ten große Laſten zieht. Alles, was wir als Schoͤn und Edel traͤumen, greift hier hinein, Sinnlichkeit und Wolluſt ſind der Geiſt der Muſik, der Mahlerei und aller Kuͤnſte, alle Wuͤnſche der Menſchen fliegen um dieſen Pol, wie Muͤcken um das brennende Licht. Schoͤn- heitsſinn und Kunſtgefuͤhl ſind nur andere Dia- lekte und Ausſprachen, ſie bezeichnen nichts wei- ter, als den Trieb des Menſchen zur Wolluſt; an jeder reizenden Form, an jedem Bilde des Dichters weidet ſich das trunkene Auge, die Gemaͤhlde, vor denen der Entzuͤckte niederkniet, ſind nichts als Einleitungen zum Sinnengenuß, jeder Klang, jedes ſchoͤngeworfene Gewand winkt ihn dorthin; daher ſind Boccaz und Arioſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/24
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/24>, abgerufen am 13.10.2024.