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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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weil ihr euch selbst und euren Gefühlen nicht
vertraut; oder vielmehr ihr habt kein Gefühl,
aller menschliche Instinkt ist in euch untergegan-
gen, und ihr behelft euch nun mit elenden For-
meln, die ihr mühsam erfunden habt, um eure
Blöße zu decken!

Welcher Mensch ist denn der edlere -- derje-
nige, der stets nach dem Gefühle handelt, das
ihn grade in diesem Momente beseelt und er-
greift, das ihn wie ein Gott im Busen vor-
wärts treibt, und er nun geht, ohne mit feiger
Aengstlichkeit hinter sich zu blicken? Oder der,
der nur als ein Sklave nach einem Gesetze sucht,
nach dem er handeln müsse, weil es ihm lästig
fällt, frey zu seyn, und er also auch die Frey-
heit nicht verdient? Der Mensch ist nur denn
geadelt, wenn er aus stillen unbewußten Gefüh-
len auf die Art gut ist, wie das Thier durch
Instinkt, Nahrung und Gesundheit erwirbt, wie
die Pflanze von innen herauswächst, wider ih-
ren Willen. --

Die Grundsätze werden von den Menschen
nur erfunden, um in einer trägen Bequemlich-
keit ihr Leben so vor sich hin zu treiben, und
in jedem Moment das Ganze übersehn zu kön-

weil ihr euch ſelbſt und euren Gefuͤhlen nicht
vertraut; oder vielmehr ihr habt kein Gefuͤhl,
aller menſchliche Inſtinkt iſt in euch untergegan-
gen, und ihr behelft euch nun mit elenden For-
meln, die ihr muͤhſam erfunden habt, um eure
Bloͤße zu decken!

Welcher Menſch iſt denn der edlere — derje-
nige, der ſtets nach dem Gefuͤhle handelt, das
ihn grade in dieſem Momente beſeelt und er-
greift, das ihn wie ein Gott im Buſen vor-
waͤrts treibt, und er nun geht, ohne mit feiger
Aengſtlichkeit hinter ſich zu blicken? Oder der,
der nur als ein Sklave nach einem Geſetze ſucht,
nach dem er handeln muͤſſe, weil es ihm laͤſtig
faͤllt, frey zu ſeyn, und er alſo auch die Frey-
heit nicht verdient? Der Menſch iſt nur denn
geadelt, wenn er aus ſtillen unbewußten Gefuͤh-
len auf die Art gut iſt, wie das Thier durch
Inſtinkt, Nahrung und Geſundheit erwirbt, wie
die Pflanze von innen herauswaͤchſt, wider ih-
ren Willen. —

Die Grundſaͤtze werden von den Menſchen
nur erfunden, um in einer traͤgen Bequemlich-
keit ihr Leben ſo vor ſich hin zu treiben, und
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[235/0241] weil ihr euch ſelbſt und euren Gefuͤhlen nicht vertraut; oder vielmehr ihr habt kein Gefuͤhl, aller menſchliche Inſtinkt iſt in euch untergegan- gen, und ihr behelft euch nun mit elenden For- meln, die ihr muͤhſam erfunden habt, um eure Bloͤße zu decken! Welcher Menſch iſt denn der edlere — derje- nige, der ſtets nach dem Gefuͤhle handelt, das ihn grade in dieſem Momente beſeelt und er- greift, das ihn wie ein Gott im Buſen vor- waͤrts treibt, und er nun geht, ohne mit feiger Aengſtlichkeit hinter ſich zu blicken? Oder der, der nur als ein Sklave nach einem Geſetze ſucht, nach dem er handeln muͤſſe, weil es ihm laͤſtig faͤllt, frey zu ſeyn, und er alſo auch die Frey- heit nicht verdient? Der Menſch iſt nur denn geadelt, wenn er aus ſtillen unbewußten Gefuͤh- len auf die Art gut iſt, wie das Thier durch Inſtinkt, Nahrung und Geſundheit erwirbt, wie die Pflanze von innen herauswaͤchſt, wider ih- ren Willen. — Die Grundſaͤtze werden von den Menſchen nur erfunden, um in einer traͤgen Bequemlich- keit ihr Leben ſo vor ſich hin zu treiben, und in jedem Moment das Ganze uͤberſehn zu koͤn-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/241>, abgerufen am 29.04.2024.