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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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unser ganzes voriges Leben außer Acht lassen;
die gegenwärtige Empfindung verschlingt alle
früheren, und die jetzige Idee macht, daß uns
alle vorhergehenden nicht mehr als Ideen, son-
dern als kindische ungeschickt entworfene Skitzen
erscheinen. Daher läugnen wir uns so oft un-
sre innerste Ueberzeugung ab; und so wie der
Mörder den noch halbbelebten Leichnam ängst-
lich mit Erde bedeckt, so verscharren wir muth-
willig Empfindungen, die sich in uns zum Be-
wustseyn empor arbeiten wollen. -- O, wenn
wir doch Teleskope erfinden könnten, um in
das tiefe Firmament unsrer Seele zu schauen,
die Milchstraße der Ahndungen zu beobachten,
die nie unserm eigentlichen Geiste näher rücken,
sondern wie Nebelflor die Sonne in uns ver-
dunkeln, ohne daß man sagen kann: jetzt ge-
schieht es!

Die Träume sind vielleicht unsre höchste Phi-
losophie, die Schlüsse der Schwärmer sind für
uns deswegen vielleicht unverständlich und lücken-
voll, weil wir es nicht begreifen, wie in ihnen
Vernunft und Gefühl vereinigt ist. So kömmt
mir das jetzt ehrwürdig vor, was ich noch vor
einem halben Jahre belachte, und ich möchte

unſer ganzes voriges Leben außer Acht laſſen;
die gegenwaͤrtige Empfindung verſchlingt alle
fruͤheren, und die jetzige Idee macht, daß uns
alle vorhergehenden nicht mehr als Ideen, ſon-
dern als kindiſche ungeſchickt entworfene Skitzen
erſcheinen. Daher laͤugnen wir uns ſo oft un-
ſre innerſte Ueberzeugung ab; und ſo wie der
Moͤrder den noch halbbelebten Leichnam aͤngſt-
lich mit Erde bedeckt, ſo verſcharren wir muth-
willig Empfindungen, die ſich in uns zum Be-
wuſtſeyn empor arbeiten wollen. — O, wenn
wir doch Teleskope erfinden koͤnnten, um in
das tiefe Firmament unſrer Seele zu ſchauen,
die Milchſtraße der Ahndungen zu beobachten,
die nie unſerm eigentlichen Geiſte naͤher ruͤcken,
ſondern wie Nebelflor die Sonne in uns ver-
dunkeln, ohne daß man ſagen kann: jetzt ge-
ſchieht es!

Die Traͤume ſind vielleicht unſre hoͤchſte Phi-
loſophie, die Schluͤſſe der Schwaͤrmer ſind fuͤr
uns deswegen vielleicht unverſtaͤndlich und luͤcken-
voll, weil wir es nicht begreifen, wie in ihnen
Vernunft und Gefuͤhl vereinigt iſt. So koͤmmt
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einem halben Jahre belachte, und ich moͤchte

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[263/0269] unſer ganzes voriges Leben außer Acht laſſen; die gegenwaͤrtige Empfindung verſchlingt alle fruͤheren, und die jetzige Idee macht, daß uns alle vorhergehenden nicht mehr als Ideen, ſon- dern als kindiſche ungeſchickt entworfene Skitzen erſcheinen. Daher laͤugnen wir uns ſo oft un- ſre innerſte Ueberzeugung ab; und ſo wie der Moͤrder den noch halbbelebten Leichnam aͤngſt- lich mit Erde bedeckt, ſo verſcharren wir muth- willig Empfindungen, die ſich in uns zum Be- wuſtſeyn empor arbeiten wollen. — O, wenn wir doch Teleskope erfinden koͤnnten, um in das tiefe Firmament unſrer Seele zu ſchauen, die Milchſtraße der Ahndungen zu beobachten, die nie unſerm eigentlichen Geiſte naͤher ruͤcken, ſondern wie Nebelflor die Sonne in uns ver- dunkeln, ohne daß man ſagen kann: jetzt ge- ſchieht es! Die Traͤume ſind vielleicht unſre hoͤchſte Phi- loſophie, die Schluͤſſe der Schwaͤrmer ſind fuͤr uns deswegen vielleicht unverſtaͤndlich und luͤcken- voll, weil wir es nicht begreifen, wie in ihnen Vernunft und Gefuͤhl vereinigt iſt. So koͤmmt mir das jetzt ehrwuͤrdig vor, was ich noch vor einem halben Jahre belachte, und ich moͤchte

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/269>, abgerufen am 29.04.2024.