Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Es ist, als wenn uns in der stillen Nacht
tiefere Gedanken und ernstere Betrachtungen be-
grüßten, denn mit jeder Stunde ward die Ge-
sellschaft feyerlicher, der Gegenstand ihres Ge-
sprächs erhabener. Ich habe nie mit dieser An-
dacht in einem Tempel gestanden, noch in kei-
nem Buche habe ich diese Gedanken gefunden,
die mich hier durchdrangen. In solchen Stun-
den vergißt man seine vorige Existenz gänzlich,
und nur die Gegenwart ist deutlich in unserer
Seele. Ich werde diese Nacht nie vergessen.

Wir gingen erst am Morgen auseinander.
Ein glühendes Roth streckte sich am Horizont
empor und färbte Dächer und Baumwipfel; die
freye Morgenluft und der helle Himmel kontra-
stirten seltsam mit dem dunklen nächtlichem Zim-
mer. Schaaren von Vögeln durchflatterten die
Luft mit muntern Tönen, die Bewohner der
Stadt schliefen fast noch alle und unsere Schrit-
te hallten die Straßen hinab. -- Könnt' ich
begreifen warum diese sinnlichen Eindrücke mich
stets so innig rühren! Der frische Morgen ist
mir immer das Bild eines frohen und thätigen
Lebens, die Luft ist gestärkt und theilt uns ih-

Lovell. 2r Bd. U

Es iſt, als wenn uns in der ſtillen Nacht
tiefere Gedanken und ernſtere Betrachtungen be-
gruͤßten, denn mit jeder Stunde ward die Ge-
ſellſchaft feyerlicher, der Gegenſtand ihres Ge-
ſpraͤchs erhabener. Ich habe nie mit dieſer An-
dacht in einem Tempel geſtanden, noch in kei-
nem Buche habe ich dieſe Gedanken gefunden,
die mich hier durchdrangen. In ſolchen Stun-
den vergißt man ſeine vorige Exiſtenz gaͤnzlich,
und nur die Gegenwart iſt deutlich in unſerer
Seele. Ich werde dieſe Nacht nie vergeſſen.

Wir gingen erſt am Morgen auseinander.
Ein gluͤhendes Roth ſtreckte ſich am Horizont
empor und faͤrbte Daͤcher und Baumwipfel; die
freye Morgenluft und der helle Himmel kontra-
ſtirten ſeltſam mit dem dunklen naͤchtlichem Zim-
mer. Schaaren von Voͤgeln durchflatterten die
Luft mit muntern Toͤnen, die Bewohner der
Stadt ſchliefen faſt noch alle und unſere Schrit-
te hallten die Straßen hinab. — Koͤnnt’ ich
begreifen warum dieſe ſinnlichen Eindruͤcke mich
ſtets ſo innig ruͤhren! Der friſche Morgen iſt
mir immer das Bild eines frohen und thaͤtigen
Lebens, die Luft iſt geſtaͤrkt und theilt uns ih-

Lovell. 2r Bd. U
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0311" n="305"/>
          <p>Es i&#x017F;t, als wenn uns in der &#x017F;tillen Nacht<lb/>
tiefere Gedanken und ern&#x017F;tere Betrachtungen be-<lb/>
gru&#x0364;ßten, denn mit jeder Stunde ward die Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft feyerlicher, der Gegen&#x017F;tand ihres Ge-<lb/>
&#x017F;pra&#x0364;chs erhabener. Ich habe nie mit die&#x017F;er An-<lb/>
dacht in einem Tempel ge&#x017F;tanden, noch in kei-<lb/>
nem Buche habe ich die&#x017F;e Gedanken gefunden,<lb/>
die mich hier durchdrangen. In &#x017F;olchen Stun-<lb/>
den vergißt man &#x017F;eine vorige Exi&#x017F;tenz ga&#x0364;nzlich,<lb/>
und nur die Gegenwart i&#x017F;t deutlich in un&#x017F;erer<lb/>
Seele. Ich werde die&#x017F;e Nacht nie verge&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Wir gingen er&#x017F;t am Morgen auseinander.<lb/>
Ein glu&#x0364;hendes Roth &#x017F;treckte &#x017F;ich am Horizont<lb/>
empor und fa&#x0364;rbte Da&#x0364;cher und Baumwipfel; die<lb/>
freye Morgenluft und der helle Himmel kontra-<lb/>
&#x017F;tirten &#x017F;elt&#x017F;am mit dem dunklen na&#x0364;chtlichem Zim-<lb/>
mer. Schaaren von Vo&#x0364;geln durchflatterten die<lb/>
Luft mit muntern To&#x0364;nen, die Bewohner der<lb/>
Stadt &#x017F;chliefen fa&#x017F;t noch alle und un&#x017F;ere Schrit-<lb/>
te hallten die Straßen hinab. &#x2014; Ko&#x0364;nnt&#x2019; ich<lb/>
begreifen warum die&#x017F;e &#x017F;innlichen Eindru&#x0364;cke mich<lb/>
&#x017F;tets &#x017F;o innig ru&#x0364;hren! Der fri&#x017F;che Morgen i&#x017F;t<lb/>
mir immer das Bild eines frohen und tha&#x0364;tigen<lb/>
Lebens, die Luft i&#x017F;t ge&#x017F;ta&#x0364;rkt und theilt uns ih-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Lovell. 2r Bd. U</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0311] Es iſt, als wenn uns in der ſtillen Nacht tiefere Gedanken und ernſtere Betrachtungen be- gruͤßten, denn mit jeder Stunde ward die Ge- ſellſchaft feyerlicher, der Gegenſtand ihres Ge- ſpraͤchs erhabener. Ich habe nie mit dieſer An- dacht in einem Tempel geſtanden, noch in kei- nem Buche habe ich dieſe Gedanken gefunden, die mich hier durchdrangen. In ſolchen Stun- den vergißt man ſeine vorige Exiſtenz gaͤnzlich, und nur die Gegenwart iſt deutlich in unſerer Seele. Ich werde dieſe Nacht nie vergeſſen. Wir gingen erſt am Morgen auseinander. Ein gluͤhendes Roth ſtreckte ſich am Horizont empor und faͤrbte Daͤcher und Baumwipfel; die freye Morgenluft und der helle Himmel kontra- ſtirten ſeltſam mit dem dunklen naͤchtlichem Zim- mer. Schaaren von Voͤgeln durchflatterten die Luft mit muntern Toͤnen, die Bewohner der Stadt ſchliefen faſt noch alle und unſere Schrit- te hallten die Straßen hinab. — Koͤnnt’ ich begreifen warum dieſe ſinnlichen Eindruͤcke mich ſtets ſo innig ruͤhren! Der friſche Morgen iſt mir immer das Bild eines frohen und thaͤtigen Lebens, die Luft iſt geſtaͤrkt und theilt uns ih- Lovell. 2r Bd. U

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/311
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/311>, abgerufen am 20.05.2024.