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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

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vorkam. -- Man kann wirklich annehmen, daß
wir, so wie Andrea und alle Menschen, in einem
gewissen Grade wahnsinnig oder toll sind, wir
glauben es aber nur von denen, bei denen diese
Tollheit eine solche Konsistenz erhalten hat, daß
sie zur sichtbaren Einheit wird und daß man sie
als ein seltsames Kunstwerk betrachten kann.
Aber jedermann hat irgend etwas an sich, das
wahrhaftig nicht im mindesten mit seinem ordi-
nären, sogenannten Verstande zusammenhängt.
Ich habe Leute gesehen, die Geschmack hatten,
und die abgeschmacktesten verschimmelten Schar-
teken mit einem solchen Eifer zusammenkauften,
als wenn es ihre Lieblingsschriftsteller gewesen
wären; andere, die philosophische Schriften
über alles rühmten und von einigen behaupte-
ten, daß man sie nicht oft genug lesen könne,
die sie aber nie lasen; Freigeister giebt es, die
vor ihrem Schatten zittern, Abergläubische,
deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen
widersprechen. Es ist als wenn dieser Kampf
von ungleichartigem Wesen in uns das hervor-
brächte, was wir einen gewöhnlichen Menschen
nennen; wer von dieser Komposition abweicht,
auf der einen oder andern Seite ausschweift

vorkam. — Man kann wirklich annehmen, daß
wir, ſo wie Andrea und alle Menſchen, in einem
gewiſſen Grade wahnſinnig oder toll ſind, wir
glauben es aber nur von denen, bei denen dieſe
Tollheit eine ſolche Konſiſtenz erhalten hat, daß
ſie zur ſichtbaren Einheit wird und daß man ſie
als ein ſeltſames Kunſtwerk betrachten kann.
Aber jedermann hat irgend etwas an ſich, das
wahrhaftig nicht im mindeſten mit ſeinem ordi-
naͤren, ſogenannten Verſtande zuſammenhaͤngt.
Ich habe Leute geſehen, die Geſchmack hatten,
und die abgeſchmackteſten verſchimmelten Schar-
teken mit einem ſolchen Eifer zuſammenkauften,
als wenn es ihre Lieblingsſchriftſteller geweſen
waͤren; andere, die philoſophiſche Schriften
uͤber alles ruͤhmten und von einigen behaupte-
ten, daß man ſie nicht oft genug leſen koͤnne,
die ſie aber nie laſen; Freigeiſter giebt es, die
vor ihrem Schatten zittern, Aberglaͤubiſche,
deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen
widerſprechen. Es iſt als wenn dieſer Kampf
von ungleichartigem Weſen in uns das hervor-
braͤchte, was wir einen gewoͤhnlichen Menſchen
nennen; wer von dieſer Kompoſition abweicht,
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[174/0181] vorkam. — Man kann wirklich annehmen, daß wir, ſo wie Andrea und alle Menſchen, in einem gewiſſen Grade wahnſinnig oder toll ſind, wir glauben es aber nur von denen, bei denen dieſe Tollheit eine ſolche Konſiſtenz erhalten hat, daß ſie zur ſichtbaren Einheit wird und daß man ſie als ein ſeltſames Kunſtwerk betrachten kann. Aber jedermann hat irgend etwas an ſich, das wahrhaftig nicht im mindeſten mit ſeinem ordi- naͤren, ſogenannten Verſtande zuſammenhaͤngt. Ich habe Leute geſehen, die Geſchmack hatten, und die abgeſchmackteſten verſchimmelten Schar- teken mit einem ſolchen Eifer zuſammenkauften, als wenn es ihre Lieblingsſchriftſteller geweſen waͤren; andere, die philoſophiſche Schriften uͤber alles ruͤhmten und von einigen behaupte- ten, daß man ſie nicht oft genug leſen koͤnne, die ſie aber nie laſen; Freigeiſter giebt es, die vor ihrem Schatten zittern, Aberglaͤubiſche, deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen widerſprechen. Es iſt als wenn dieſer Kampf von ungleichartigem Weſen in uns das hervor- braͤchte, was wir einen gewoͤhnlichen Menſchen nennen; wer von dieſer Kompoſition abweicht, auf der einen oder andern Seite ausſchweift

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/181>, abgerufen am 27.04.2024.