Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

ben! Alles zieht sich von mir zurück, meine
vertrautesten Freunde kennen mich nicht mehr,
wenn sie mir auf der Straße begegnen, und
noch vor kurzem waren sie lauter Höflichkeit,
lauter Demuth. Im Grunde ist das mensch-
liche Geschlecht und vor allem der kultivirte
Theil desselben eine große Heerde von Kanni-
balen. Im gewöhnlichen Umgange sieht man
Verbeugungen gegen einander, die höchste Auf-
merksamkeit, daß keiner den andern verletze,
oder auf irgend eine Art beleidige, man thut
als würde man durch Hochachtung, durch Blicke
und Komplimente beglückt, -- o, und wenn
diese Menschen dadurch reich werden könnten,
sie zerrissen denselben Gegenstand lebendig mit
den Händen, ja mit den Zähnen. -- Es hat
hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe-
der, eine kleine Münze, mit der größten Ehr-
erbietung wieder reichten, zehn beeiferten sich
um die Wette, mir den Dienst zu thun, und
jetzt würden alle zehn mir keinen Thaler geben,
und wenn sie mich dadurch von dem Verhun-
gern retten könnten. -- Noch nie, als jetzt,
habe ich den Druck der Armuth gefühlt und
ihre Leiden sind fürchterlich, man kann leicht

ben! Alles zieht ſich von mir zuruͤck, meine
vertrauteſten Freunde kennen mich nicht mehr,
wenn ſie mir auf der Straße begegnen, und
noch vor kurzem waren ſie lauter Hoͤflichkeit,
lauter Demuth. Im Grunde iſt das menſch-
liche Geſchlecht und vor allem der kultivirte
Theil deſſelben eine große Heerde von Kanni-
balen. Im gewoͤhnlichen Umgange ſieht man
Verbeugungen gegen einander, die hoͤchſte Auf-
merkſamkeit, daß keiner den andern verletze,
oder auf irgend eine Art beleidige, man thut
als wuͤrde man durch Hochachtung, durch Blicke
und Komplimente begluͤckt, — o, und wenn
dieſe Menſchen dadurch reich werden koͤnnten,
ſie zerriſſen denſelben Gegenſtand lebendig mit
den Haͤnden, ja mit den Zaͤhnen. — Es hat
hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe-
der, eine kleine Muͤnze, mit der groͤßten Ehr-
erbietung wieder reichten, zehn beeiferten ſich
um die Wette, mir den Dienſt zu thun, und
jetzt wuͤrden alle zehn mir keinen Thaler geben,
und wenn ſie mich dadurch von dem Verhun-
gern retten koͤnnten. — Noch nie, als jetzt,
habe ich den Druck der Armuth gefuͤhlt und
ihre Leiden ſind fuͤrchterlich, man kann leicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0258" n="251"/>
ben! Alles zieht &#x017F;ich von mir zuru&#x0364;ck, meine<lb/>
vertraute&#x017F;ten Freunde kennen mich nicht mehr,<lb/>
wenn &#x017F;ie mir auf der Straße begegnen, und<lb/>
noch vor kurzem waren &#x017F;ie lauter Ho&#x0364;flichkeit,<lb/>
lauter Demuth. Im Grunde i&#x017F;t das men&#x017F;ch-<lb/>
liche Ge&#x017F;chlecht und vor allem der kultivirte<lb/>
Theil de&#x017F;&#x017F;elben eine große Heerde von Kanni-<lb/>
balen. Im gewo&#x0364;hnlichen Umgange &#x017F;ieht man<lb/>
Verbeugungen gegen einander, die ho&#x0364;ch&#x017F;te Auf-<lb/>
merk&#x017F;amkeit, daß keiner den andern verletze,<lb/>
oder auf irgend eine Art beleidige, man thut<lb/>
als wu&#x0364;rde man durch Hochachtung, durch Blicke<lb/>
und Komplimente beglu&#x0364;ckt, &#x2014; o, und wenn<lb/>
die&#x017F;e Men&#x017F;chen dadurch reich werden ko&#x0364;nnten,<lb/>
&#x017F;ie zerri&#x017F;&#x017F;en den&#x017F;elben Gegen&#x017F;tand lebendig mit<lb/>
den Ha&#x0364;nden, ja mit den Za&#x0364;hnen. &#x2014; Es hat<lb/>
hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe-<lb/>
der, eine kleine Mu&#x0364;nze, mit der gro&#x0364;ßten Ehr-<lb/>
erbietung wieder reichten, zehn beeiferten &#x017F;ich<lb/>
um die Wette, mir den Dien&#x017F;t zu thun, und<lb/>
jetzt wu&#x0364;rden alle zehn mir keinen Thaler geben,<lb/>
und wenn &#x017F;ie mich dadurch von dem Verhun-<lb/>
gern retten ko&#x0364;nnten. &#x2014; Noch nie, als jetzt,<lb/>
habe ich den Druck der Armuth gefu&#x0364;hlt und<lb/>
ihre Leiden &#x017F;ind fu&#x0364;rchterlich, man kann leicht<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0258] ben! Alles zieht ſich von mir zuruͤck, meine vertrauteſten Freunde kennen mich nicht mehr, wenn ſie mir auf der Straße begegnen, und noch vor kurzem waren ſie lauter Hoͤflichkeit, lauter Demuth. Im Grunde iſt das menſch- liche Geſchlecht und vor allem der kultivirte Theil deſſelben eine große Heerde von Kanni- balen. Im gewoͤhnlichen Umgange ſieht man Verbeugungen gegen einander, die hoͤchſte Auf- merkſamkeit, daß keiner den andern verletze, oder auf irgend eine Art beleidige, man thut als wuͤrde man durch Hochachtung, durch Blicke und Komplimente begluͤckt, — o, und wenn dieſe Menſchen dadurch reich werden koͤnnten, ſie zerriſſen denſelben Gegenſtand lebendig mit den Haͤnden, ja mit den Zaͤhnen. — Es hat hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe- der, eine kleine Muͤnze, mit der groͤßten Ehr- erbietung wieder reichten, zehn beeiferten ſich um die Wette, mir den Dienſt zu thun, und jetzt wuͤrden alle zehn mir keinen Thaler geben, und wenn ſie mich dadurch von dem Verhun- gern retten koͤnnten. — Noch nie, als jetzt, habe ich den Druck der Armuth gefuͤhlt und ihre Leiden ſind fuͤrchterlich, man kann leicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/258
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/258>, abgerufen am 05.05.2024.