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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Die schöne Magelone.
nenglanz auf und ab, und der letzte Schein erlöscht
furchtsam; Wind fährt durch den Eichenforst und
kein Hüttenbewohner denkt an die Röthe des Abends
zurück. Im Winkel sitzt wohl ein Knabe in sich
versunken und sieht im dämmernden Widerschein
der Lampe ein Bild der fröhlichen Morgenröthe;
ihm dünkt, er höre schon die muntern Hähne
krähen, und wie ein kühler Wind durch die Blätter
rauscht und alle Blumen der Wiese aus ihrem stil-
len Schlafe weckt; er vergißt sich selbst und nickt
nach und nach ein, indem das Feuer ausbrennt.
Dann kommen Träume über ihn, dann sieht er
alles im Glanze der Sonne vor sich: die wohl-
bekannte Heimath, über die wunderbare fremde
Gestalten schreiten, Bäume wachsen hervor, die
er nie gesehn, sie scheinen zu reden und menschli-
chen Sinn, Liebe und Vertrauen zu ihm ausdrük-
ken zu wollen. Wie fühlt er sich der Welt befreun-
det, wie schaut ihn alles mit zärtlichem Wohlge-
fallen an! die Büsche flüstern ihm liebe Worte
ins Ohr, indem er vorübergeht, fromme Lämmer
drängen sich um ihn, die Quelle scheint mit locken-
dem Murmeln ihn fort führen zu wollen, das
Gras unter seinen Füßen quillt frischer und grü-
ner hervor.

Unter diesem Bilde mag dir, geliebter Leser,
der Dichter erscheinen, und er bittet, daß du ihm
vergönnen mögest, dir seinen Traum vorzuführen.
Jene alte Geschichte, die manchen sonst ergötzte,
die vergessen ward, und die er gern mit neuem
Lichte bekleiden möchte.


Die ſchoͤne Magelone.
nenglanz auf und ab, und der letzte Schein erloͤſcht
furchtſam; Wind faͤhrt durch den Eichenforſt und
kein Huͤttenbewohner denkt an die Roͤthe des Abends
zuruͤck. Im Winkel ſitzt wohl ein Knabe in ſich
verſunken und ſieht im daͤmmernden Widerſchein
der Lampe ein Bild der froͤhlichen Morgenroͤthe;
ihm duͤnkt, er hoͤre ſchon die muntern Haͤhne
kraͤhen, und wie ein kuͤhler Wind durch die Blaͤtter
rauſcht und alle Blumen der Wieſe aus ihrem ſtil-
len Schlafe weckt; er vergißt ſich ſelbſt und nickt
nach und nach ein, indem das Feuer ausbrennt.
Dann kommen Traͤume uͤber ihn, dann ſieht er
alles im Glanze der Sonne vor ſich: die wohl-
bekannte Heimath, uͤber die wunderbare fremde
Geſtalten ſchreiten, Baͤume wachſen hervor, die
er nie geſehn, ſie ſcheinen zu reden und menſchli-
chen Sinn, Liebe und Vertrauen zu ihm ausdruͤk-
ken zu wollen. Wie fuͤhlt er ſich der Welt befreun-
det, wie ſchaut ihn alles mit zaͤrtlichem Wohlge-
fallen an! die Buͤſche fluͤſtern ihm liebe Worte
ins Ohr, indem er voruͤbergeht, fromme Laͤmmer
draͤngen ſich um ihn, die Quelle ſcheint mit locken-
dem Murmeln ihn fort fuͤhren zu wollen, das
Gras unter ſeinen Fuͤßen quillt friſcher und gruͤ-
ner hervor.

Unter dieſem Bilde mag dir, geliebter Leſer,
der Dichter erſcheinen, und er bittet, daß du ihm
vergoͤnnen moͤgeſt, dir ſeinen Traum vorzufuͤhren.
Jene alte Geſchichte, die manchen ſonſt ergoͤtzte,
die vergeſſen ward, und die er gern mit neuem
Lichte bekleiden moͤchte.


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[325/0336] Die ſchoͤne Magelone. nenglanz auf und ab, und der letzte Schein erloͤſcht furchtſam; Wind faͤhrt durch den Eichenforſt und kein Huͤttenbewohner denkt an die Roͤthe des Abends zuruͤck. Im Winkel ſitzt wohl ein Knabe in ſich verſunken und ſieht im daͤmmernden Widerſchein der Lampe ein Bild der froͤhlichen Morgenroͤthe; ihm duͤnkt, er hoͤre ſchon die muntern Haͤhne kraͤhen, und wie ein kuͤhler Wind durch die Blaͤtter rauſcht und alle Blumen der Wieſe aus ihrem ſtil- len Schlafe weckt; er vergißt ſich ſelbſt und nickt nach und nach ein, indem das Feuer ausbrennt. Dann kommen Traͤume uͤber ihn, dann ſieht er alles im Glanze der Sonne vor ſich: die wohl- bekannte Heimath, uͤber die wunderbare fremde Geſtalten ſchreiten, Baͤume wachſen hervor, die er nie geſehn, ſie ſcheinen zu reden und menſchli- chen Sinn, Liebe und Vertrauen zu ihm ausdruͤk- ken zu wollen. Wie fuͤhlt er ſich der Welt befreun- det, wie ſchaut ihn alles mit zaͤrtlichem Wohlge- fallen an! die Buͤſche fluͤſtern ihm liebe Worte ins Ohr, indem er voruͤbergeht, fromme Laͤmmer draͤngen ſich um ihn, die Quelle ſcheint mit locken- dem Murmeln ihn fort fuͤhren zu wollen, das Gras unter ſeinen Fuͤßen quillt friſcher und gruͤ- ner hervor. Unter dieſem Bilde mag dir, geliebter Leſer, der Dichter erſcheinen, und er bittet, daß du ihm vergoͤnnen moͤgeſt, dir ſeinen Traum vorzufuͤhren. Jene alte Geſchichte, die manchen ſonſt ergoͤtzte, die vergeſſen ward, und die er gern mit neuem Lichte bekleiden moͤchte.

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/336>, abgerufen am 29.04.2024.