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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.

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Die verkehrte Welt.
Willst du allein in voller Herrlichkeit
In deinem Innern nur die Leere fühlen? --
Was seh ich? blendet mich der trunkne Blick?
Ein majestätisch Schiff auf ferner Woge?
Hieher! hieher! bemerkt dies weiße Tuch,
Das hoch im kühlen Morgenwinde flattert!

(Er winkt durch Zeichen.)
Ein Boot wird ausgesetzt! -- sie nahn, sie kom-
men, --
Schon kann ich Menschen unterscheiden, -- welch
Gefühl gleicht meiner Freude? -- O willkommen!

(Ein Boot mit Matrosen rudert heran.)
Erster Matrose. Sieh, wie der Mensch
da oben am Felsen klebt!
Zweiter Matrose. Bis jetzt ist es uns
noch nie gelungen, einen solchen Vogel auszunehmen.
Erster Matrose. Steig' herunter, Mensch!
Seelmann (herunter kletternd.)
O Freude! Freude!
Nach langem Leide,
Seh' ich die lieben Brüder,
Die Menschen wieder!
Zweiter Matrose. Höre nur, er singt
ordentlich.
Erster Matrose. Er hat sich hier in der
Einsamkeit wohl aufs Singen legen müssen?
Seelmann (im Boot.)
O Leute, ein ganzes Buch will ich schreiben,
Das soll jedem Leser die Zeit vertreiben,
Von allem, was ich auf dem Felsen gelitten,
Wie manche Noth ich hier bestritten,
Die verkehrte Welt.
Willſt du allein in voller Herrlichkeit
In deinem Innern nur die Leere fuͤhlen? —
Was ſeh ich? blendet mich der trunkne Blick?
Ein majeſtaͤtiſch Schiff auf ferner Woge?
Hieher! hieher! bemerkt dies weiße Tuch,
Das hoch im kuͤhlen Morgenwinde flattert!

(Er winkt durch Zeichen.)
Ein Boot wird ausgeſetzt! — ſie nahn, ſie kom-
men, —
Schon kann ich Menſchen unterſcheiden, — welch
Gefuͤhl gleicht meiner Freude? — O willkommen!

(Ein Boot mit Matroſen rudert heran.)
Erſter Matroſe. Sieh, wie der Menſch
da oben am Felſen klebt!
Zweiter Matroſe. Bis jetzt iſt es uns
noch nie gelungen, einen ſolchen Vogel auszunehmen.
Erſter Matroſe. Steig' herunter, Menſch!
Seelmann (herunter kletternd.)
O Freude! Freude!
Nach langem Leide,
Seh' ich die lieben Bruͤder,
Die Menſchen wieder!
Zweiter Matroſe. Hoͤre nur, er ſingt
ordentlich.
Erſter Matroſe. Er hat ſich hier in der
Einſamkeit wohl aufs Singen legen muͤſſen?
Seelmann (im Boot.)
O Leute, ein ganzes Buch will ich ſchreiben,
Das ſoll jedem Leſer die Zeit vertreiben,
Von allem, was ich auf dem Felſen gelitten,
Wie manche Noth ich hier beſtritten,
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[357/0366] Die verkehrte Welt. Willſt du allein in voller Herrlichkeit In deinem Innern nur die Leere fuͤhlen? — Was ſeh ich? blendet mich der trunkne Blick? Ein majeſtaͤtiſch Schiff auf ferner Woge? Hieher! hieher! bemerkt dies weiße Tuch, Das hoch im kuͤhlen Morgenwinde flattert! (Er winkt durch Zeichen.) Ein Boot wird ausgeſetzt! — ſie nahn, ſie kom- men, — Schon kann ich Menſchen unterſcheiden, — welch Gefuͤhl gleicht meiner Freude? — O willkommen! (Ein Boot mit Matroſen rudert heran.) Erſter Matroſe. Sieh, wie der Menſch da oben am Felſen klebt! Zweiter Matroſe. Bis jetzt iſt es uns noch nie gelungen, einen ſolchen Vogel auszunehmen. Erſter Matroſe. Steig' herunter, Menſch! Seelmann (herunter kletternd.) O Freude! Freude! Nach langem Leide, Seh' ich die lieben Bruͤder, Die Menſchen wieder! Zweiter Matroſe. Hoͤre nur, er ſingt ordentlich. Erſter Matroſe. Er hat ſich hier in der Einſamkeit wohl aufs Singen legen muͤſſen? Seelmann (im Boot.) O Leute, ein ganzes Buch will ich ſchreiben, Das ſoll jedem Leſer die Zeit vertreiben, Von allem, was ich auf dem Felſen gelitten, Wie manche Noth ich hier beſtritten,

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/366>, abgerufen am 29.04.2024.