Sie scheinen ja heut, sagte Clara, Schrö- der ihrem geliebten Fleck vorzuziehen, und doch verstand ich sie neulich anders.
Liebste Freundinn, fuhr Lothar fort, jeder von ihnen hatte Vorzüge vor dem andern, und ich will versuchen, ihnen meine Ansicht deutlich zu machen. Schröder hatte jene schaffende Phantasie im höchsten Sinne des Wortes, die das unerlaßlichste Erforderniß des Schauspie- lers ist, und er war sich dieser vollkommen be- wußt, er war fähig, mit seinem Scharfsinn und Verstande alle ihre Tiefen zu durchdringen, und Entdeckungen zu machen, die sein Studium und seine Kunst zu einer zusammenhängenden Ent- wickelung und Reise führten, daher seine Viel- seitigkeit, seine Sicherheit im Tragischen und Komischen, wie in den Characterrollen: deshalb er alles, was er übernahm, vortrefflich aus- führte, aber auch mit voller Kenntniß seiner selbst nichts versuchte, was ihm nicht gelingen konnte. Außerdem kam ihm die Schule seiner Jugend zu statten, er hatte in Balletten getanzt und in Opern gesungen, und so war er der viel- seitigste, gewandteste, sicherste, und da er alles im großem Style zeigte, in diesem Sinne wohl der größte Schauspieler seiner Nation ge- worden.
Nun, und Fleck? fragte Clara wieder.
Haben Sie Geduld mit meiner Weitschwei- figkeit, antwortete Lothar lächelnd, der Ver-
Zweite Abtheilung.
Sie ſcheinen ja heut, ſagte Clara, Schroͤ- der ihrem geliebten Fleck vorzuziehen, und doch verſtand ich ſie neulich anders.
Liebſte Freundinn, fuhr Lothar fort, jeder von ihnen hatte Vorzuͤge vor dem andern, und ich will verſuchen, ihnen meine Anſicht deutlich zu machen. Schroͤder hatte jene ſchaffende Phantaſie im hoͤchſten Sinne des Wortes, die das unerlaßlichſte Erforderniß des Schauſpie- lers iſt, und er war ſich dieſer vollkommen be- wußt, er war faͤhig, mit ſeinem Scharfſinn und Verſtande alle ihre Tiefen zu durchdringen, und Entdeckungen zu machen, die ſein Studium und ſeine Kunſt zu einer zuſammenhaͤngenden Ent- wickelung und Reiſe fuͤhrten, daher ſeine Viel- ſeitigkeit, ſeine Sicherheit im Tragiſchen und Komiſchen, wie in den Characterrollen: deshalb er alles, was er uͤbernahm, vortrefflich aus- fuͤhrte, aber auch mit voller Kenntniß ſeiner ſelbſt nichts verſuchte, was ihm nicht gelingen konnte. Außerdem kam ihm die Schule ſeiner Jugend zu ſtatten, er hatte in Balletten getanzt und in Opern geſungen, und ſo war er der viel- ſeitigſte, gewandteſte, ſicherſte, und da er alles im großem Style zeigte, in dieſem Sinne wohl der groͤßte Schauſpieler ſeiner Nation ge- worden.
Nun, und Fleck? fragte Clara wieder.
Haben Sie Geduld mit meiner Weitſchwei- figkeit, antwortete Lothar laͤchelnd, der Ver-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0514"n="504"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/><p>Sie ſcheinen ja heut, ſagte Clara, Schroͤ-<lb/>
der ihrem geliebten Fleck vorzuziehen, und doch<lb/>
verſtand ich ſie neulich anders.</p><lb/><p>Liebſte Freundinn, fuhr Lothar fort, jeder<lb/>
von ihnen hatte Vorzuͤge vor dem andern, und<lb/>
ich will verſuchen, ihnen meine Anſicht deutlich<lb/>
zu machen. Schroͤder hatte jene ſchaffende<lb/>
Phantaſie im hoͤchſten Sinne des Wortes, die<lb/>
das unerlaßlichſte Erforderniß des Schauſpie-<lb/>
lers iſt, und er war ſich dieſer vollkommen be-<lb/>
wußt, er war faͤhig, mit ſeinem Scharfſinn und<lb/>
Verſtande alle ihre Tiefen zu durchdringen, und<lb/>
Entdeckungen zu machen, die ſein Studium und<lb/>ſeine Kunſt zu einer zuſammenhaͤngenden Ent-<lb/>
wickelung und Reiſe fuͤhrten, daher ſeine Viel-<lb/>ſeitigkeit, ſeine Sicherheit im Tragiſchen und<lb/>
Komiſchen, wie in den Characterrollen: deshalb<lb/>
er alles, was er uͤbernahm, vortrefflich aus-<lb/>
fuͤhrte, aber auch mit voller Kenntniß ſeiner<lb/>ſelbſt nichts verſuchte, was ihm nicht gelingen<lb/>
konnte. Außerdem kam ihm die Schule ſeiner<lb/>
Jugend zu ſtatten, er hatte in Balletten getanzt<lb/>
und in Opern geſungen, und ſo war er der viel-<lb/>ſeitigſte, gewandteſte, ſicherſte, und da er alles<lb/>
im großem Style zeigte, in dieſem Sinne wohl<lb/>
der groͤßte Schauſpieler ſeiner Nation ge-<lb/>
worden.</p><lb/><p>Nun, und Fleck? fragte Clara wieder.</p><lb/><p>Haben Sie Geduld mit meiner Weitſchwei-<lb/>
figkeit, antwortete Lothar laͤchelnd, der Ver-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[504/0514]
Zweite Abtheilung.
Sie ſcheinen ja heut, ſagte Clara, Schroͤ-
der ihrem geliebten Fleck vorzuziehen, und doch
verſtand ich ſie neulich anders.
Liebſte Freundinn, fuhr Lothar fort, jeder
von ihnen hatte Vorzuͤge vor dem andern, und
ich will verſuchen, ihnen meine Anſicht deutlich
zu machen. Schroͤder hatte jene ſchaffende
Phantaſie im hoͤchſten Sinne des Wortes, die
das unerlaßlichſte Erforderniß des Schauſpie-
lers iſt, und er war ſich dieſer vollkommen be-
wußt, er war faͤhig, mit ſeinem Scharfſinn und
Verſtande alle ihre Tiefen zu durchdringen, und
Entdeckungen zu machen, die ſein Studium und
ſeine Kunſt zu einer zuſammenhaͤngenden Ent-
wickelung und Reiſe fuͤhrten, daher ſeine Viel-
ſeitigkeit, ſeine Sicherheit im Tragiſchen und
Komiſchen, wie in den Characterrollen: deshalb
er alles, was er uͤbernahm, vortrefflich aus-
fuͤhrte, aber auch mit voller Kenntniß ſeiner
ſelbſt nichts verſuchte, was ihm nicht gelingen
konnte. Außerdem kam ihm die Schule ſeiner
Jugend zu ſtatten, er hatte in Balletten getanzt
und in Opern geſungen, und ſo war er der viel-
ſeitigſte, gewandteſte, ſicherſte, und da er alles
im großem Style zeigte, in dieſem Sinne wohl
der groͤßte Schauſpieler ſeiner Nation ge-
worden.
Nun, und Fleck? fragte Clara wieder.
Haben Sie Geduld mit meiner Weitſchwei-
figkeit, antwortete Lothar laͤchelnd, der Ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/514>, abgerufen am 01.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.