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Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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telte lächelnd mit dem Kopfe und blieb stumm. Unten wurde Alles ganz still; der Alte hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen.

Heinrich setzte sich zu Clara hin und sagte mit etwas unterdrückter Stimme: Es ist in der That verdrießlich, daß nur sehr wenige Menschen so viel Phantasie wie der große Don Quixote besitzen. Als man diesem sein Bücherzimmer vermauert hatte und ihm erklärte, ein Zauberer habe ihm nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die ganze Stube zugleich hinweggeführt, so begriff er sogleich, ohne nur zu zweifeln, die ganze Sache. Er war nicht so prosaisch, sich zu erkundigen, wo denn ein so ganz abstractes Ding, wie der Raum, hingekommen sei. Was ist Raum? ein Unbedingtes, ein Nichts, eine Form der Anschauung. Was ist eine Treppe? ein Bedingtes, aber nichts weniger als ein selbständiges Wesen, eine Vermittlung, eine Veranlassung, von unten nach oben zu gelangen, und wie relativ sind selbst diese Begriffe von Oben und Unten. Der Alte wird es sich nimmermehr ausreden lassen, daß dort, wo jetzt nur eine Lücke ist, ehemals eine Treppe gestanden habe; er ist gewiß zu empirisch und rationalistisch, um einzusehen, daß der wahre Mensch und die tiefere Intuition der gewöhnlichen Uebergänge jener armseligen, prosaischen Approximation einer so gemeinen Stufenleiter der Begriffe nicht bedarf. Wie soll ich ihm das Alles von meinem höheren Standpunkte auf seinem niedern da unten deutlich

telte lächelnd mit dem Kopfe und blieb stumm. Unten wurde Alles ganz still; der Alte hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen.

Heinrich setzte sich zu Clara hin und sagte mit etwas unterdrückter Stimme: Es ist in der That verdrießlich, daß nur sehr wenige Menschen so viel Phantasie wie der große Don Quixote besitzen. Als man diesem sein Bücherzimmer vermauert hatte und ihm erklärte, ein Zauberer habe ihm nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die ganze Stube zugleich hinweggeführt, so begriff er sogleich, ohne nur zu zweifeln, die ganze Sache. Er war nicht so prosaisch, sich zu erkundigen, wo denn ein so ganz abstractes Ding, wie der Raum, hingekommen sei. Was ist Raum? ein Unbedingtes, ein Nichts, eine Form der Anschauung. Was ist eine Treppe? ein Bedingtes, aber nichts weniger als ein selbständiges Wesen, eine Vermittlung, eine Veranlassung, von unten nach oben zu gelangen, und wie relativ sind selbst diese Begriffe von Oben und Unten. Der Alte wird es sich nimmermehr ausreden lassen, daß dort, wo jetzt nur eine Lücke ist, ehemals eine Treppe gestanden habe; er ist gewiß zu empirisch und rationalistisch, um einzusehen, daß der wahre Mensch und die tiefere Intuition der gewöhnlichen Uebergänge jener armseligen, prosaischen Approximation einer so gemeinen Stufenleiter der Begriffe nicht bedarf. Wie soll ich ihm das Alles von meinem höheren Standpunkte auf seinem niedern da unten deutlich

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:30:27Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:30:27Z)

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/69>, abgerufen am 29.04.2024.