Hier fand ich angewiesne Pflichten, Und, wie mein Eifer, so mein Lohn. Werd ich sie nur getreu verrichten, So hör ich meinen Nachruhm schon. Gefällt der Fleiß, mit dem ich diene, Dem, der mir meine Rolle gab; So tret ich einst von dieser Bühne Mit einem frohen Beifall ab.
Welches ist mein Temperament? oder mit andern Wor- ten: was sind mir insbesondre für Pflichten angewiesen worden, welche ich zur Ehre des Schöpfers vollführen soll? Wie unglücklich, wenn wir für alle Tugenden gleich starke Abneigung hätten! So aber kommt uns manche Tugend auf den halben Weg entgegen. Einige Laster sind uns schon vermöge unsers Na- turels zuwider, und wir behalten nur gleichsam halbe Arbeit. Zwo Klippen muß ich hier vermeiden. So entfernt sie auch scheinen, so bringt sie der Sünder dennoch unter Einen Punkt, um sich entschuldigen zu können. Beide Abwege sind gleich gefähelich:
"Mein Temperament macht mich lasterhaft." Freilich sind einem jeden vermittelst desselben einige Laster geläufiger, als andre. Der sanguinische oder zur Wollust geneigte Mensch ist mehr zu Sünden der Unreinigkeit, zur Verschwendung, zu leichtsinnigem und faulem Geschwätz aufgelegt, als der abgehungerte und mür- rische Einsiedler und Geizhals. Aber was folgt hierans anders, als daß jener ein andres Feld anzubauen habe, als dieser? Hin- gegen drängen sich bei diesem auch Laster ein, welche jenem un- natürlich scheinen. Dahin: Niederträchtigkeit, unerdittliche Härte, hündischer Neid. Folglich hat jeder von beiden einen be-
sondern
Der 22te Februar.
Hier fand ich angewieſne Pflichten, Und, wie mein Eifer, ſo mein Lohn. Werd ich ſie nur getreu verrichten, So hoͤr ich meinen Nachruhm ſchon. Gefaͤllt der Fleiß, mit dem ich diene, Dem, der mir meine Rolle gab; So tret ich einſt von dieſer Buͤhne Mit einem frohen Beifall ab.
Welches iſt mein Temperament? oder mit andern Wor- ten: was ſind mir insbeſondre fuͤr Pflichten angewieſen worden, welche ich zur Ehre des Schoͤpfers vollfuͤhren ſoll? Wie ungluͤcklich, wenn wir fuͤr alle Tugenden gleich ſtarke Abneigung haͤtten! So aber kommt uns manche Tugend auf den halben Weg entgegen. Einige Laſter ſind uns ſchon vermoͤge unſers Na- turels zuwider, und wir behalten nur gleichſam halbe Arbeit. Zwo Klippen muß ich hier vermeiden. So entfernt ſie auch ſcheinen, ſo bringt ſie der Suͤnder dennoch unter Einen Punkt, um ſich entſchuldigen zu koͤnnen. Beide Abwege ſind gleich gefaͤhelich:
„Mein Temperament macht mich laſterhaft.„ Freilich ſind einem jeden vermittelſt deſſelben einige Laſter gelaͤufiger, als andre. Der ſanguiniſche oder zur Wolluſt geneigte Menſch iſt mehr zu Suͤnden der Unreinigkeit, zur Verſchwendung, zu leichtſinnigem und faulem Geſchwaͤtz aufgelegt, als der abgehungerte und muͤr- riſche Einſiedler und Geizhals. Aber was folgt hierans anders, als daß jener ein andres Feld anzubauen habe, als dieſer? Hin- gegen draͤngen ſich bei dieſem auch Laſter ein, welche jenem un- natuͤrlich ſcheinen. Dahin: Niedertraͤchtigkeit, unerdittliche Haͤrte, huͤndiſcher Neid. Folglich hat jeder von beiden einen be-
ſondern
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0146"n="109[139]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head>Der 22<hirendition="#sup">te</hi> Februar.</head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">H</hi>ier fand ich angewieſne Pflichten,</l><lb/><l>Und, wie mein Eifer, ſo mein Lohn.</l><lb/><l>Werd ich ſie nur getreu verrichten,</l><lb/><l>So hoͤr ich meinen Nachruhm ſchon.</l><lb/><l>Gefaͤllt der Fleiß, mit dem ich diene,</l><lb/><l>Dem, der mir meine Rolle gab;</l><lb/><l>So tret ich einſt von dieſer Buͤhne</l><lb/><l>Mit einem frohen Beifall ab.</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>elches iſt <hirendition="#fr">mein Temperament?</hi> oder mit andern Wor-<lb/>
ten: was ſind mir insbeſondre fuͤr Pflichten angewieſen<lb/>
worden, welche ich zur Ehre des Schoͤpfers vollfuͤhren ſoll? Wie<lb/>
ungluͤcklich, wenn wir fuͤr alle Tugenden gleich ſtarke Abneigung<lb/>
haͤtten! So aber kommt uns manche Tugend auf den halben<lb/>
Weg entgegen. Einige Laſter ſind uns ſchon vermoͤge unſers Na-<lb/>
turels zuwider, und wir behalten nur gleichſam halbe Arbeit. Zwo<lb/>
Klippen muß ich hier vermeiden. So entfernt ſie auch ſcheinen,<lb/>ſo bringt ſie der Suͤnder dennoch unter Einen Punkt, um ſich<lb/>
entſchuldigen zu koͤnnen. Beide Abwege ſind gleich gefaͤhelich:</p><lb/><p>„Mein Temperament macht mich laſterhaft.„ Freilich ſind<lb/>
einem jeden vermittelſt deſſelben einige Laſter gelaͤufiger, als andre.<lb/>
Der ſanguiniſche oder zur Wolluſt geneigte Menſch iſt mehr zu<lb/>
Suͤnden der Unreinigkeit, zur Verſchwendung, zu leichtſinnigem<lb/>
und faulem Geſchwaͤtz aufgelegt, als der abgehungerte und muͤr-<lb/>
riſche Einſiedler und Geizhals. Aber was folgt hierans anders,<lb/>
als daß jener ein andres Feld anzubauen habe, als dieſer? Hin-<lb/>
gegen draͤngen ſich bei dieſem auch Laſter ein, welche jenem un-<lb/>
natuͤrlich ſcheinen. Dahin: Niedertraͤchtigkeit, unerdittliche<lb/>
Haͤrte, huͤndiſcher Neid. Folglich hat jeder von beiden einen be-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſondern</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[109[139]/0146]
Der 22te Februar.
Hier fand ich angewieſne Pflichten,
Und, wie mein Eifer, ſo mein Lohn.
Werd ich ſie nur getreu verrichten,
So hoͤr ich meinen Nachruhm ſchon.
Gefaͤllt der Fleiß, mit dem ich diene,
Dem, der mir meine Rolle gab;
So tret ich einſt von dieſer Buͤhne
Mit einem frohen Beifall ab.
Welches iſt mein Temperament? oder mit andern Wor-
ten: was ſind mir insbeſondre fuͤr Pflichten angewieſen
worden, welche ich zur Ehre des Schoͤpfers vollfuͤhren ſoll? Wie
ungluͤcklich, wenn wir fuͤr alle Tugenden gleich ſtarke Abneigung
haͤtten! So aber kommt uns manche Tugend auf den halben
Weg entgegen. Einige Laſter ſind uns ſchon vermoͤge unſers Na-
turels zuwider, und wir behalten nur gleichſam halbe Arbeit. Zwo
Klippen muß ich hier vermeiden. So entfernt ſie auch ſcheinen,
ſo bringt ſie der Suͤnder dennoch unter Einen Punkt, um ſich
entſchuldigen zu koͤnnen. Beide Abwege ſind gleich gefaͤhelich:
„Mein Temperament macht mich laſterhaft.„ Freilich ſind
einem jeden vermittelſt deſſelben einige Laſter gelaͤufiger, als andre.
Der ſanguiniſche oder zur Wolluſt geneigte Menſch iſt mehr zu
Suͤnden der Unreinigkeit, zur Verſchwendung, zu leichtſinnigem
und faulem Geſchwaͤtz aufgelegt, als der abgehungerte und muͤr-
riſche Einſiedler und Geizhals. Aber was folgt hierans anders,
als daß jener ein andres Feld anzubauen habe, als dieſer? Hin-
gegen draͤngen ſich bei dieſem auch Laſter ein, welche jenem un-
natuͤrlich ſcheinen. Dahin: Niedertraͤchtigkeit, unerdittliche
Haͤrte, huͤndiſcher Neid. Folglich hat jeder von beiden einen be-
ſondern
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 109[139]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/146>, abgerufen am 06.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.