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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 12te Januar.
wüßte, wie viele Menschen ich binnen Jahresfrist durch mei[]
Unbesonenheit beleidiget habe!

Zugegeben, daß einige mir zu viel thun, so bleibt es do[ - 2 Zeichen fehlen]
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Verläumder. Der Bettler unter meinem Fenster kan von mir
so wol beleidiget werden, als mein Landesherr auf seinem Throne.
Soll der Handwerker mit Lust für mich arbeiten, die Wittwe
ohne Seufzen mich vor Gott nennen; sollen meine Freunde und
Hausgenossen mit leichten Herzen jetzt Gott für den zurückgeleg-
ten Tag danken: so muß ich ihnen sämtlich gegeben haben, was
sie als meine Mitmenschen, ja noch mehr! was sie als meine
Brüder in Christo, als Glieder unsers gemeinschaftlichen Haupts,
als Erlösete und Miterben des Himmels von mir mit Recht ver-
langen konten!

Verzeih mir, Herr! die verborgene Fehler! So muß ich
auch meine heutige Betrachtung beschliessen. Wie weit bin ich
noch von der Vollkommenheit entfernt, welche das Christenthum
so ernstlich von mir fodert! Laß mich, o! wahrer Menschenfreund,
Herr Jesu! deinem Wandel nachfolgen: nicht wieder schelten,
wann ich gescholten werde; Geduld, Treue und Barmherzigkeit
üben an jedermann! Nie müsse ich von meinem Nächsten eine
Tugend erwarten, die ich selbst nicht ausüben mag! Nie mein
Temperament für das glücklichste, meinen Verstand für den glän-
zendsten und meinem Umgang für den gefälligsten halten! Einen
jeden gegen mich zur Dankbarkeit zu reizen, und so hoch als mög-
lich zu schätzen: das sey mir Ruhm und Pflicht! Rüste mich dazu
mit Menschenliebe und Klugheit aus: dann werde ich mit leichterm
Herzen mit dir auf meinem Lager reden, gesicherter schlafen, und
meinen Pilgerweg zum Himmel ungestörter fortsetzen können.

Der

Der 12te Januar.
wuͤßte, wie viele Menſchen ich binnen Jahresfriſt durch mei[]
Unbeſonenheit beleidiget habe!

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ohne Seufzen mich vor Gott nennen; ſollen meine Freunde und
Hausgenoſſen mit leichten Herzen jetzt Gott fuͤr den zuruͤckgeleg-
ten Tag danken: ſo muß ich ihnen ſaͤmtlich gegeben haben, was
ſie als meine Mitmenſchen, ja noch mehr! was ſie als meine
Bruͤder in Chriſto, als Glieder unſers gemeinſchaftlichen Haupts,
als Erloͤſete und Miterben des Himmels von mir mit Recht ver-
langen konten!

Verzeih mir, Herr! die verborgene Fehler! So muß ich
auch meine heutige Betrachtung beſchlieſſen. Wie weit bin ich
noch von der Vollkommenheit entfernt, welche das Chriſtenthum
ſo ernſtlich von mir fodert! Laß mich, o! wahrer Menſchenfreund,
Herr Jeſu! deinem Wandel nachfolgen: nicht wieder ſchelten,
wann ich geſcholten werde; Geduld, Treue und Barmherzigkeit
uͤben an jedermann! Nie muͤſſe ich von meinem Naͤchſten eine
Tugend erwarten, die ich ſelbſt nicht ausuͤben mag! Nie mein
Temperament fuͤr das gluͤcklichſte, meinen Verſtand fuͤr den glaͤn-
zendſten und meinem Umgang fuͤr den gefaͤlligſten halten! Einen
jeden gegen mich zur Dankbarkeit zu reizen, und ſo hoch als moͤg-
lich zu ſchaͤtzen: das ſey mir Ruhm und Pflicht! Ruͤſte mich dazu
mit Menſchenliebe und Klugheit aus: dann werde ich mit leichterm
Herzen mit dir auf meinem Lager reden, geſicherter ſchlafen, und
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Der
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[26[56]/0063] Der 12te Januar. wuͤßte, wie viele Menſchen ich binnen Jahresfriſt durch mei_ Unbeſonenheit beleidiget habe! Zugegeben, daß einige mir zu viel thun, ſo bleibt es do__ unleugbar, daß meiner Verbindlichkeiten gegen den Naͤchſten ein_/> unabſehliche Reihe iſt. Alle haben ein Recht dazu, daß ich ſie wi_ mich ſelber lieben ſoll; jeder aber hat auch noch beſondre Fode_/> rungen an mich, vom treuen Ehegatten an bis zum haͤmiſchen Verlaͤumder. Der Bettler unter meinem Fenſter kan von mir ſo wol beleidiget werden, als mein Landesherr auf ſeinem Throne. Soll der Handwerker mit Luſt fuͤr mich arbeiten, die Wittwe ohne Seufzen mich vor Gott nennen; ſollen meine Freunde und Hausgenoſſen mit leichten Herzen jetzt Gott fuͤr den zuruͤckgeleg- ten Tag danken: ſo muß ich ihnen ſaͤmtlich gegeben haben, was ſie als meine Mitmenſchen, ja noch mehr! was ſie als meine Bruͤder in Chriſto, als Glieder unſers gemeinſchaftlichen Haupts, als Erloͤſete und Miterben des Himmels von mir mit Recht ver- langen konten! Verzeih mir, Herr! die verborgene Fehler! So muß ich auch meine heutige Betrachtung beſchlieſſen. Wie weit bin ich noch von der Vollkommenheit entfernt, welche das Chriſtenthum ſo ernſtlich von mir fodert! Laß mich, o! wahrer Menſchenfreund, Herr Jeſu! deinem Wandel nachfolgen: nicht wieder ſchelten, wann ich geſcholten werde; Geduld, Treue und Barmherzigkeit uͤben an jedermann! Nie muͤſſe ich von meinem Naͤchſten eine Tugend erwarten, die ich ſelbſt nicht ausuͤben mag! Nie mein Temperament fuͤr das gluͤcklichſte, meinen Verſtand fuͤr den glaͤn- zendſten und meinem Umgang fuͤr den gefaͤlligſten halten! Einen jeden gegen mich zur Dankbarkeit zu reizen, und ſo hoch als moͤg- lich zu ſchaͤtzen: das ſey mir Ruhm und Pflicht! Ruͤſte mich dazu mit Menſchenliebe und Klugheit aus: dann werde ich mit leichterm Herzen mit dir auf meinem Lager reden, geſicherter ſchlafen, und meinen Pilgerweg zum Himmel ungeſtoͤrter fortſetzen koͤnnen. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 26[56]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/63>, abgerufen am 20.05.2024.