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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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mütterlich Erbe zu sein. Und der allgemeinste künstlerische
Geist im Volke, wie er in Schmuck, Gesang, Erzählung sich
äussert, wird durch Mädchensinn, Mutterlust, weibliches
Gedächtniss, Aberglauben und ahnendes Wesen getragen.
So bleibt auch der geniale Mensch in vielen Stücken eine
frauenhafte Natur: naiv und aufrichtig, weich, zartfühlend,
lebhaft, in Stimmungen und Launen leicht wechselnd, heiter
oder melancholisch; dazu träumerisch und schwärmend, ja
wie in einem beständigen Rausche dahinlebend, den Dingen
und den Menschen mit Glauben und Vertrauen sich er-
gebend; daher unabsichtlich, ja oft blind und thöricht, in
leichtem wie in schwerem Sinne. Hieraus folgt, dass ein
so Begeisterter, unter den eigentlichen Männern, denen des
trockenen, geschäftsmässigen Ernstes, unverständig, ja dumm,
oder albern, närrisch, wahnwitzig erscheinen kann: wie
unter Nüchternen der Trunkene. Und nicht viel anders
kömmt Solchen, wenn ihr Urtheil völlig unbefangen bleibt,
das Gebahren und Wesen eines echten Weibes vor: sie
verstehen es nicht, es ist ihnen absurd. -- In Wahrheit ist
der geniale Mensch mit denjenigen ausgeprägten Eigen-
schaften angethan, welche bei allen redenden Geschöpfen
irgendwie angedeutet sich finden; er kömmt dem Typus
des vollkommenen Menschen, welchen wir hieraus als ein
Idealbild gestalten mögen, am nächsten. Denn Muskelkraft
und Muth zeichnet schon Thiere unter Thieren aus; Gehirn-
kraft und Genie ist der menschlichen Gattung, auch als
Möglichkeit, vorbehalten. Der geniale Mensch ist der
künstlerische Mensch; er ist die entwickelte Gestalt (die
"Blüthe") des natürlichen (einfachen, wahren) Menschen.
Hingegen was über ihn hinausgeht, durch absichtliches und
bewusstes Thun und Treiben, ist der künstliche Mensch,
d. h. in welchem das Gegentheil des natürlichen erscheint:
als ob er aus sich selber einen anderen gemacht habe,
welchen vor sich her zu tragen ihm nützlich und gut dünkt.
Wenn das Weib dem natürlichen, der Mann dem künstlichen
Menschen, ein jedes seiner Idee nach, ähnlicher sieht, so
ist der Mann, in welchem Wesenwille vorherrscht, noch
vom weiblichen Geiste umfangen; durch Willkür macht er
sich davon ledig und steht erst in seiner blossen Mannheit

mütterlich Erbe zu sein. Und der allgemeinste künstlerische
Geist im Volke, wie er in Schmuck, Gesang, Erzählung sich
äussert, wird durch Mädchensinn, Mutterlust, weibliches
Gedächtniss, Aberglauben und ahnendes Wesen getragen.
So bleibt auch der geniale Mensch in vielen Stücken eine
frauenhafte Natur: naiv und aufrichtig, weich, zartfühlend,
lebhaft, in Stimmungen und Launen leicht wechselnd, heiter
oder melancholisch; dazu träumerisch und schwärmend, ja
wie in einem beständigen Rausche dahinlebend, den Dingen
und den Menschen mit Glauben und Vertrauen sich er-
gebend; daher unabsichtlich, ja oft blind und thöricht, in
leichtem wie in schwerem Sinne. Hieraus folgt, dass ein
so Begeisterter, unter den eigentlichen Männern, denen des
trockenen, geschäftsmässigen Ernstes, unverständig, ja dumm,
oder albern, närrisch, wahnwitzig erscheinen kann: wie
unter Nüchternen der Trunkene. Und nicht viel anders
kömmt Solchen, wenn ihr Urtheil völlig unbefangen bleibt,
das Gebahren und Wesen eines echten Weibes vor: sie
verstehen es nicht, es ist ihnen absurd. — In Wahrheit ist
der geniale Mensch mit denjenigen ausgeprägten Eigen-
schaften angethan, welche bei allen redenden Geschöpfen
irgendwie angedeutet sich finden; er kömmt dem Typus
des vollkommenen Menschen, welchen wir hieraus als ein
Idealbild gestalten mögen, am nächsten. Denn Muskelkraft
und Muth zeichnet schon Thiere unter Thieren aus; Gehirn-
kraft und Genie ist der menschlichen Gattung, auch als
Möglichkeit, vorbehalten. Der geniale Mensch ist der
künstlerische Mensch; er ist die entwickelte Gestalt (die
»Blüthe«) des natürlichen (einfachen, wahren) Menschen.
Hingegen was über ihn hinausgeht, durch absichtliches und
bewusstes Thun und Treiben, ist der künstliche Mensch,
d. h. in welchem das Gegentheil des natürlichen erscheint:
als ob er aus sich selber einen anderen gemacht habe,
welchen vor sich her zu tragen ihm nützlich und gut dünkt.
Wenn das Weib dem natürlichen, der Mann dem künstlichen
Menschen, ein jedes seiner Idee nach, ähnlicher sieht, so
ist der Mann, in welchem Wesenwille vorherrscht, noch
vom weiblichen Geiste umfangen; durch Willkür macht er
sich davon ledig und steht erst in seiner blossen Mannheit

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[172/0208] mütterlich Erbe zu sein. Und der allgemeinste künstlerische Geist im Volke, wie er in Schmuck, Gesang, Erzählung sich äussert, wird durch Mädchensinn, Mutterlust, weibliches Gedächtniss, Aberglauben und ahnendes Wesen getragen. So bleibt auch der geniale Mensch in vielen Stücken eine frauenhafte Natur: naiv und aufrichtig, weich, zartfühlend, lebhaft, in Stimmungen und Launen leicht wechselnd, heiter oder melancholisch; dazu träumerisch und schwärmend, ja wie in einem beständigen Rausche dahinlebend, den Dingen und den Menschen mit Glauben und Vertrauen sich er- gebend; daher unabsichtlich, ja oft blind und thöricht, in leichtem wie in schwerem Sinne. Hieraus folgt, dass ein so Begeisterter, unter den eigentlichen Männern, denen des trockenen, geschäftsmässigen Ernstes, unverständig, ja dumm, oder albern, närrisch, wahnwitzig erscheinen kann: wie unter Nüchternen der Trunkene. Und nicht viel anders kömmt Solchen, wenn ihr Urtheil völlig unbefangen bleibt, das Gebahren und Wesen eines echten Weibes vor: sie verstehen es nicht, es ist ihnen absurd. — In Wahrheit ist der geniale Mensch mit denjenigen ausgeprägten Eigen- schaften angethan, welche bei allen redenden Geschöpfen irgendwie angedeutet sich finden; er kömmt dem Typus des vollkommenen Menschen, welchen wir hieraus als ein Idealbild gestalten mögen, am nächsten. Denn Muskelkraft und Muth zeichnet schon Thiere unter Thieren aus; Gehirn- kraft und Genie ist der menschlichen Gattung, auch als Möglichkeit, vorbehalten. Der geniale Mensch ist der künstlerische Mensch; er ist die entwickelte Gestalt (die »Blüthe«) des natürlichen (einfachen, wahren) Menschen. Hingegen was über ihn hinausgeht, durch absichtliches und bewusstes Thun und Treiben, ist der künstliche Mensch, d. h. in welchem das Gegentheil des natürlichen erscheint: als ob er aus sich selber einen anderen gemacht habe, welchen vor sich her zu tragen ihm nützlich und gut dünkt. Wenn das Weib dem natürlichen, der Mann dem künstlichen Menschen, ein jedes seiner Idee nach, ähnlicher sieht, so ist der Mann, in welchem Wesenwille vorherrscht, noch vom weiblichen Geiste umfangen; durch Willkür macht er sich davon ledig und steht erst in seiner blossen Mannheit

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/208>, abgerufen am 29.04.2024.