Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

wandelt werden. Aber dieses Beides ist die allmähliche,
immer erneuerte Arbeit unzähliger Geschlechter und wird
wie ein fertiges Organ, aber auch nur als die Anlage des-
selben und als Forderung zu eigenem Erwerbe und Aus-
bildung von Vätern auf Söhne überliefert. Daher ist das
besessene, behauptete Gebiet ein gemeinsames Erbe, Land
der Väter und Vorfahren, in Bezug worauf sich Alle als
echte Nachkommen und gleich leiblichen Brüdern empfinden
und verhalten. Und also begriffen, kann es wie eine leben-
dige Substanz sich darstellen, die im Wechsel der Menschen
als ihrer Accidentien und Elemente zugleich, nach diesem
ihrem geistigen oder psychologischen Werthe beharret, als
gemeinsame Willenssphäre den Zusammenhang nicht blos der
neben einander, sondern auch die Einheit der nach ein-
ander wohnenden und wirkenden Generationen darstellend.
Wie die Gewohnheit der Nebeneinander-Lebenden ausser-
halb der Instincte des Blutes das stärkste Band bildet, so
erhält Gedächtniss sogar die Lebenden mit den Todten
zusammen, sie noch zu kennen, zu fürchten, zu verehren.
Und wenn die Heimath überhaupt als Stätte lieber Erinne-
rungen das Herz fesselt, Trennung schwer macht, den Ent-
fernten mit Sehnsucht und Heimweh zurückzieht, so hat sie
als der Ort, wo die Vorfahren gelebt haben und begraben
sind, wo noch die Geister der Abgeschiedenen schweifen und
verweilen, über den Dächern und unter den Wänden, schü-
tzend und sorgend, aber auch ihrer eingedenk zu sein, mäch-
tig fordernd, für einfältige und gläubige Gemüther noch eine
besondere und erhabenere Bedeutung. Dieses ist zwar schon
in Haus und Familie unmittelbar vorhanden, auch wenn
noch das Zelt von Lager zu Lager getragen und der Grund
und Boden nur als Träger von Baum- und Krautfrucht,
als Berger des Wildes und endlich als Weideplatz des zahmen
Viehes, um solche freien und reichlichen, keine Sesshaftigkeit
heischenden Gaben geschätzt wird. Jedoch muss die Empfin-
dung dafür stärker werden, je mehr Haus und Hof bleibend
dasteht und mit der Erde verwachsen zu sein scheint, welche
nun auch, urbar gemacht, die umgesetzte lebendige Kraft, und
gleichsam Blut und Schweiss selber, der Vergangenen in sich

wandelt werden. Aber dieses Beides ist die allmähliche,
immer erneuerte Arbeit unzähliger Geschlechter und wird
wie ein fertiges Organ, aber auch nur als die Anlage des-
selben und als Forderung zu eigenem Erwerbe und Aus-
bildung von Vätern auf Söhne überliefert. Daher ist das
besessene, behauptete Gebiet ein gemeinsames Erbe, Land
der Väter und Vorfahren, in Bezug worauf sich Alle als
echte Nachkommen und gleich leiblichen Brüdern empfinden
und verhalten. Und also begriffen, kann es wie eine leben-
dige Substanz sich darstellen, die im Wechsel der Menschen
als ihrer Accidentien und Elemente zugleich, nach diesem
ihrem geistigen oder psychologischen Werthe beharret, als
gemeinsame Willenssphäre den Zusammenhang nicht blos der
neben einander, sondern auch die Einheit der nach ein-
ander wohnenden und wirkenden Generationen darstellend.
Wie die Gewohnheit der Nebeneinander-Lebenden ausser-
halb der Instincte des Blutes das stärkste Band bildet, so
erhält Gedächtniss sogar die Lebenden mit den Todten
zusammen, sie noch zu kennen, zu fürchten, zu verehren.
Und wenn die Heimath überhaupt als Stätte lieber Erinne-
rungen das Herz fesselt, Trennung schwer macht, den Ent-
fernten mit Sehnsucht und Heimweh zurückzieht, so hat sie
als der Ort, wo die Vorfahren gelebt haben und begraben
sind, wo noch die Geister der Abgeschiedenen schweifen und
verweilen, über den Dächern und unter den Wänden, schü-
tzend und sorgend, aber auch ihrer eingedenk zu sein, mäch-
tig fordernd, für einfältige und gläubige Gemüther noch eine
besondere und erhabenere Bedeutung. Dieses ist zwar schon
in Haus und Familie unmittelbar vorhanden, auch wenn
noch das Zelt von Lager zu Lager getragen und der Grund
und Boden nur als Träger von Baum- und Krautfrucht,
als Berger des Wildes und endlich als Weideplatz des zahmen
Viehes, um solche freien und reichlichen, keine Sesshaftigkeit
heischenden Gaben geschätzt wird. Jedoch muss die Empfin-
dung dafür stärker werden, je mehr Haus und Hof bleibend
dasteht und mit der Erde verwachsen zu sein scheint, welche
nun auch, urbar gemacht, die umgesetzte lebendige Kraft, und
gleichsam Blut und Schweiss selber, der Vergangenen in sich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0286" n="250"/>
wandelt werden. Aber dieses Beides ist die allmähliche,<lb/>
immer erneuerte Arbeit unzähliger Geschlechter und wird<lb/>
wie ein fertiges Organ, aber auch nur als die Anlage des-<lb/>
selben und als Forderung zu eigenem Erwerbe und Aus-<lb/>
bildung von Vätern auf Söhne überliefert. Daher ist das<lb/><hi rendition="#g">besessene</hi>, behauptete Gebiet ein gemeinsames Erbe, Land<lb/>
der Väter und Vorfahren, in Bezug worauf sich Alle als<lb/>
echte Nachkommen und gleich leiblichen Brüdern empfinden<lb/>
und verhalten. Und also begriffen, kann es wie eine leben-<lb/>
dige Substanz sich darstellen, die im Wechsel der Menschen<lb/>
als ihrer Accidentien und Elemente zugleich, nach diesem<lb/>
ihrem geistigen oder psychologischen Werthe beharret, als<lb/>
gemeinsame Willenssphäre den Zusammenhang nicht blos der<lb/><hi rendition="#g">neben</hi> einander, sondern auch die Einheit der <hi rendition="#g">nach</hi> ein-<lb/>
ander wohnenden und wirkenden Generationen darstellend.<lb/>
Wie die <hi rendition="#g">Gewohnheit</hi> der Nebeneinander-Lebenden ausser-<lb/>
halb der Instincte des Blutes das stärkste Band bildet, so<lb/>
erhält <hi rendition="#g">Gedächtniss</hi> sogar die Lebenden mit den Todten<lb/>
zusammen, sie noch zu kennen, zu fürchten, zu verehren.<lb/>
Und wenn die Heimath überhaupt als Stätte lieber Erinne-<lb/>
rungen das Herz fesselt, Trennung schwer macht, den Ent-<lb/>
fernten mit Sehnsucht und Heimweh zurückzieht, so hat sie<lb/>
als der Ort, wo die <hi rendition="#g">Vorfahren</hi> gelebt haben und begraben<lb/>
sind, wo noch die Geister der Abgeschiedenen schweifen und<lb/>
verweilen, über den Dächern und unter den Wänden, schü-<lb/>
tzend und sorgend, aber auch ihrer eingedenk zu sein, mäch-<lb/>
tig fordernd, für einfältige und gläubige Gemüther noch eine<lb/>
besondere und erhabenere Bedeutung. Dieses ist zwar schon<lb/>
in Haus und Familie unmittelbar vorhanden, auch wenn<lb/>
noch das Zelt von Lager zu Lager getragen und der Grund<lb/>
und Boden nur als Träger von Baum- und Krautfrucht,<lb/>
als Berger des Wildes und endlich als Weideplatz des zahmen<lb/>
Viehes, um solche freien und reichlichen, keine Sesshaftigkeit<lb/>
heischenden Gaben geschätzt wird. Jedoch muss die Empfin-<lb/>
dung dafür stärker werden, je mehr Haus und Hof bleibend<lb/>
dasteht und mit der Erde verwachsen zu sein scheint, welche<lb/>
nun auch, urbar gemacht, die umgesetzte lebendige Kraft, und<lb/>
gleichsam Blut und Schweiss selber, der Vergangenen in sich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0286] wandelt werden. Aber dieses Beides ist die allmähliche, immer erneuerte Arbeit unzähliger Geschlechter und wird wie ein fertiges Organ, aber auch nur als die Anlage des- selben und als Forderung zu eigenem Erwerbe und Aus- bildung von Vätern auf Söhne überliefert. Daher ist das besessene, behauptete Gebiet ein gemeinsames Erbe, Land der Väter und Vorfahren, in Bezug worauf sich Alle als echte Nachkommen und gleich leiblichen Brüdern empfinden und verhalten. Und also begriffen, kann es wie eine leben- dige Substanz sich darstellen, die im Wechsel der Menschen als ihrer Accidentien und Elemente zugleich, nach diesem ihrem geistigen oder psychologischen Werthe beharret, als gemeinsame Willenssphäre den Zusammenhang nicht blos der neben einander, sondern auch die Einheit der nach ein- ander wohnenden und wirkenden Generationen darstellend. Wie die Gewohnheit der Nebeneinander-Lebenden ausser- halb der Instincte des Blutes das stärkste Band bildet, so erhält Gedächtniss sogar die Lebenden mit den Todten zusammen, sie noch zu kennen, zu fürchten, zu verehren. Und wenn die Heimath überhaupt als Stätte lieber Erinne- rungen das Herz fesselt, Trennung schwer macht, den Ent- fernten mit Sehnsucht und Heimweh zurückzieht, so hat sie als der Ort, wo die Vorfahren gelebt haben und begraben sind, wo noch die Geister der Abgeschiedenen schweifen und verweilen, über den Dächern und unter den Wänden, schü- tzend und sorgend, aber auch ihrer eingedenk zu sein, mäch- tig fordernd, für einfältige und gläubige Gemüther noch eine besondere und erhabenere Bedeutung. Dieses ist zwar schon in Haus und Familie unmittelbar vorhanden, auch wenn noch das Zelt von Lager zu Lager getragen und der Grund und Boden nur als Träger von Baum- und Krautfrucht, als Berger des Wildes und endlich als Weideplatz des zahmen Viehes, um solche freien und reichlichen, keine Sesshaftigkeit heischenden Gaben geschätzt wird. Jedoch muss die Empfin- dung dafür stärker werden, je mehr Haus und Hof bleibend dasteht und mit der Erde verwachsen zu sein scheint, welche nun auch, urbar gemacht, die umgesetzte lebendige Kraft, und gleichsam Blut und Schweiss selber, der Vergangenen in sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/286
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/286>, abgerufen am 30.04.2024.