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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Recht ableiten, welches sie in Bezug auf einander und alsdann
auch gegen einander haben, folglich auch in Bezug auf und
gegen das eigene Selbst der Genossenschaft, insofern als dieses
seinen gegebenen Willen nicht nach Willkür verändern kann.
Aber die Willenssphäre des Ganzen muss als vor allen ein-
zelnen Willenssphären dieselben involvirend gedacht werden,
und Freiheit und Eigenthum der Menschen sind nur vor-
handen als Modificationen der Freiheit und Eigenthums des
Gemeinwesens. In einem allgemeinen Zusammenhange der
Gemeinschaft würde aber die Sphäre jeder Genossenschaft
wiederum bedingt und bestimmt sein durch frühere und
höhere Genossenschaft, zu welcher sie als Mitglied sich
verhält, bis endlich die höchste als ein alle Menschheit um-
fassendes Gemeinwesen sich würde vorstellen müssen. Und
dies ist die Idee der Kirche und des geistlich-weltlichen
Universal-Reiches. -- Hingegen jeder Verein beruht auf
einem Complex von Contracten jedes mit jedem Subjecte,
und dieser Complex heisst als Vereinbarung, durch welche
die fingirte Person gleichsam ins Leben gerufen wird, ein
Statut. Das Statut gibt dem Verein einen Willen durch
Ernennung einer bestimmten Vertretung, es gibt ihm einen
Zweck, welcher nur ein Zweck sein kann, in Bezug auf
welchen die Contrahenten sich einig wissen, und gibt ihm
die Mittel zur Verfolgung oder Erreichung solches Zweckes,
welche Mittel aus den Mitteln jener gegeben und zusammen-
gelegt werden müssen. Diese Mittel sind theils Rechte in
Bezug auf gewisse Handlungen der einzelnen Personen, über
welche der Verein folglich (im Rechte) auf dieselbe Weise
verfügen kann oder darf, wie jedes Individuum die seinigen
in der Willkür hat und darüber verfügt. Sie sind mithin
Stücke der Freiheit. Es sind Zwangsrechte. Wie solche
durch jede Obligation sich ergeben, ist früher betrachtet
worden. Zur Ausübung des Zwanges ist aber ein Verein
seiner Natur nach nicht mehr fähig, als der einzelne Mensch.
Er kann nur handeln durch seinen Repräsentanten; dieser
ist ein Individuum oder eine Versammlung. Wenn ein In-
dividuum, so ist derselbe Fall gegeben, als ob dasselbe in
seinem eigenen Namen zu zwingen versuchen würde. Wenn
eine Versammlung, so kann dieselbe zwar als ein Ganzes

Recht ableiten, welches sie in Bezug auf einander und alsdann
auch gegen einander haben, folglich auch in Bezug auf und
gegen das eigene Selbst der Genossenschaft, insofern als dieses
seinen gegebenen Willen nicht nach Willkür verändern kann.
Aber die Willenssphäre des Ganzen muss als vor allen ein-
zelnen Willenssphären dieselben involvirend gedacht werden,
und Freiheit und Eigenthum der Menschen sind nur vor-
handen als Modificationen der Freiheit und Eigenthums des
Gemeinwesens. In einem allgemeinen Zusammenhange der
Gemeinschaft würde aber die Sphäre jeder Genossenschaft
wiederum bedingt und bestimmt sein durch frühere und
höhere Genossenschaft, zu welcher sie als Mitglied sich
verhält, bis endlich die höchste als ein alle Menschheit um-
fassendes Gemeinwesen sich würde vorstellen müssen. Und
dies ist die Idee der Kirche und des geistlich-weltlichen
Universal-Reiches. — Hingegen jeder Verein beruht auf
einem Complex von Contracten jedes mit jedem Subjecte,
und dieser Complex heisst als Vereinbarung, durch welche
die fingirte Person gleichsam ins Leben gerufen wird, ein
Statut. Das Statut gibt dem Verein einen Willen durch
Ernennung einer bestimmten Vertretung, es gibt ihm einen
Zweck, welcher nur ein Zweck sein kann, in Bezug auf
welchen die Contrahenten sich einig wissen, und gibt ihm
die Mittel zur Verfolgung oder Erreichung solches Zweckes,
welche Mittel aus den Mitteln jener gegeben und zusammen-
gelegt werden müssen. Diese Mittel sind theils Rechte in
Bezug auf gewisse Handlungen der einzelnen Personen, über
welche der Verein folglich (im Rechte) auf dieselbe Weise
verfügen kann oder darf, wie jedes Individuum die seinigen
in der Willkür hat und darüber verfügt. Sie sind mithin
Stücke der Freiheit. Es sind Zwangsrechte. Wie solche
durch jede Obligation sich ergeben, ist früher betrachtet
worden. Zur Ausübung des Zwanges ist aber ein Verein
seiner Natur nach nicht mehr fähig, als der einzelne Mensch.
Er kann nur handeln durch seinen Repräsentanten; dieser
ist ein Individuum oder eine Versammlung. Wenn ein In-
dividuum, so ist derselbe Fall gegeben, als ob dasselbe in
seinem eigenen Namen zu zwingen versuchen würde. Wenn
eine Versammlung, so kann dieselbe zwar als ein Ganzes

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[262/0298] Recht ableiten, welches sie in Bezug auf einander und alsdann auch gegen einander haben, folglich auch in Bezug auf und gegen das eigene Selbst der Genossenschaft, insofern als dieses seinen gegebenen Willen nicht nach Willkür verändern kann. Aber die Willenssphäre des Ganzen muss als vor allen ein- zelnen Willenssphären dieselben involvirend gedacht werden, und Freiheit und Eigenthum der Menschen sind nur vor- handen als Modificationen der Freiheit und Eigenthums des Gemeinwesens. In einem allgemeinen Zusammenhange der Gemeinschaft würde aber die Sphäre jeder Genossenschaft wiederum bedingt und bestimmt sein durch frühere und höhere Genossenschaft, zu welcher sie als Mitglied sich verhält, bis endlich die höchste als ein alle Menschheit um- fassendes Gemeinwesen sich würde vorstellen müssen. Und dies ist die Idee der Kirche und des geistlich-weltlichen Universal-Reiches. — Hingegen jeder Verein beruht auf einem Complex von Contracten jedes mit jedem Subjecte, und dieser Complex heisst als Vereinbarung, durch welche die fingirte Person gleichsam ins Leben gerufen wird, ein Statut. Das Statut gibt dem Verein einen Willen durch Ernennung einer bestimmten Vertretung, es gibt ihm einen Zweck, welcher nur ein Zweck sein kann, in Bezug auf welchen die Contrahenten sich einig wissen, und gibt ihm die Mittel zur Verfolgung oder Erreichung solches Zweckes, welche Mittel aus den Mitteln jener gegeben und zusammen- gelegt werden müssen. Diese Mittel sind theils Rechte in Bezug auf gewisse Handlungen der einzelnen Personen, über welche der Verein folglich (im Rechte) auf dieselbe Weise verfügen kann oder darf, wie jedes Individuum die seinigen in der Willkür hat und darüber verfügt. Sie sind mithin Stücke der Freiheit. Es sind Zwangsrechte. Wie solche durch jede Obligation sich ergeben, ist früher betrachtet worden. Zur Ausübung des Zwanges ist aber ein Verein seiner Natur nach nicht mehr fähig, als der einzelne Mensch. Er kann nur handeln durch seinen Repräsentanten; dieser ist ein Individuum oder eine Versammlung. Wenn ein In- dividuum, so ist derselbe Fall gegeben, als ob dasselbe in seinem eigenen Namen zu zwingen versuchen würde. Wenn eine Versammlung, so kann dieselbe zwar als ein Ganzes

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/298>, abgerufen am 29.04.2024.